Ein Haus an der Steilküste

 

Stotternd heulte der Motor noch einmal auf und versagte schließlich endgültig. Der Ford rollte aus, und nachdem die Scheinwerfer erloschen waren, konnte Maron nichts mehr sehen. Fluchend schlug er mit seiner Faust aufs Lenkrad und starrte hinaus in den heftigen Regen. Er musste sich verfahren haben, denn laut seiner Karte hätte er schon vor mehr als zwei Kilometern an einer Wegkreuzung nach rechts abbiegen müssen – aber da war nichts. Die Straße war schmal und zu ihrer Linken befand sich ein so eben noch haltendes Geländer, das wohl nur notdürftigen Schutz vor dem sich steil eröffnenden Abhang hätte bieten können.

Prasselnd trommelten die Regentropfen auf das Dach und Maron hüllte sich in seinen Mantel. Es war kalt und er fror. Außerdem hatte er seit Stunden nichts mehr gegessen. Er ließ den Ford stehen und kämpfte sich durch das Unwetter zu einem Licht hin, das wohl von einem Haus kommen musste - vielleicht könnte man ihm dort helfen?

Ernest Maron schlug den Mantelkragen hoch und folgte dem Schein, den er in dem dichter werdenden Regen nur noch mühsam erkennen konnte. Ein kleiner Weg führte von der Straße ab und knirschend gab der Kies unter seinen Füßen nach. Endlich erreichte er die Vordertür und begann, wild dagegen zu hämmern. Nass bis auf die Haut stand er frierend davor und hoffte auf Einlass in dieser ungemütlichen Nacht.

Die Tür öffnete sich und eine alte Frau schaute ihn fragend an. „Guten Abend, gnädige Frau. Entschuldigen Sie die Störung – ich bin mit meinem Wagen liegen geblieben. Dürfte ich vielleicht bei Ihnen telefonieren?“

„Treten Sie ein, junger Mann.“

„Vielen Dank. Maron mein Name, Ernest Maron. Nochmals vielen Dank.“ Die Frau war vielleicht um die 70, womöglich auch etwas älter. Sie trug einen schwarzen Umhang und ihr langes weißes Haar hing lose über ihre Schultern. Der kleine Vorraum, der hell erleuchtet war, führte in einen großen rundlichen Raum. Dieser war nur schwach beleuchtet, aber es wirkte sofort gemütlich.

 Die alte Dame hatte seinen Mantel am Kamin aufgehängt und war in ein kleines Nebenzimmer geeilt, um ihm Handtücher zu bringen. „Sie müssen sich aber sehr verfahren haben. Hierher zu mir findet sonst selten jemand den Weg.“

„Ja, es war schon dunkel und ich suchte eigentlich die Abzweigung nach Saltenborough. Aber irgendwie muss ich sie wohl verpasst haben und zu allem Überfluss streikt nun auch noch mein Motor.“

„Nun, Herr Maron, Sie werden wohl über Nacht bleiben müssen. Um diese Zeit kommt niemand mehr hier raus und schon gar nicht bei diesem Wetter. Die Küstenstraße ist sehr gefährlich.“

„Ich will Ihnen aber keinesfalls Umstände machen.“

„Ist schon recht so. Oben gibt es noch eine Kammer, die ich eigentlich nicht mehr benutze. Sie finden dort ein Bett und einen kleinen Ofen gibt es auch. Haben Sie Hunger, Herr Maron?“

„Ehrlich gesagt schon, eine Kleinigkeit wäre sehr freundlich.“

Die Frau deckte den Tisch, rückte den dreiarmigen Kerzenleuchter etwas zur Seite und holte etwas kalten Braten, ein paar Tomaten und einen großen Laib selbst gebackenes Brot. Der Duft von Speck und Eiern, die inzwischen auf dem Ofen in einer Pfanne brutzelten, erinnerten Maron daran, wie hungrig er war. Auf einer bequemen Sitzbank nahm er schließlich Platz und auch die Frau setzte sich zu ihm, nachdem sie ihm als auch sich selbst von dem knusprigen Speck gegeben hatte. Der dampfende Tee wärmte ihn und allmählich erholte er sich von dem Sturm, der draußen noch immer heftig tobte. Doch irgendwie schien das hier drinnen keine Rolle zu spielen. Neugierig betrachtete Maron den Raum.

Vor dem Kamin lag ein dicker, weißer Teppich. Angrenzend daran stand ein mit schwarzem Samt bezogener Ottomane mit vielen hellen Kissen, daneben ein Schaukelstuhl. Die Wände waren bis zur Decke mit einem Bücherregal durchzogen. Die überschaubare Essecke war umrandet von einer kleinen Küche, in der auch ein antiker Herd stand. Es gab viele Blumen und größere Gewächse, die sich in der Offenheit des Raumes wunderbar verteilten. Eine breite Treppe führte in ein oberes Geschoss. Das Flackern des Kaminfeuers tauchte alles in ein wärmendes Licht. Und obwohl von draußen der heulende Wind und starke Regen zu vernehmen waren, fühlte sich Maron hier drinnen so wohl, wie er es selbst eigentlich nie zuvor hatte spüren können. Kurz horchte er genauer hin. Ihm war, als hätte er inmitten dieses Getöses eine Schiffsglocke gehört. Oder etwas Ähnliches. Konnte das sein? Bei diesem Wetter? Wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten. Heutzutage wäre doch ein Horn eher das was man erwarten würde, oder nicht? Mal abgesehen davon, dass bei so einem Sturm kaum ein Schiff in unmittelbarer Nähe zur Küste auf offener See treiben würde. Aber es klang erneut wie der tiefe Laut einer Glocke. Irritiert trank er von seinem Tee und betrachtete die alte Frau, die sich inzwischen erhoben hatte und ihren Teller zur Spüle brachte. Ihre Gestalt war zierlich. Der Ausdruck in ihren großen dunklen Augen wachsam und klar. Das Gesicht ebenmäßig und trotz oder gerade wegen der einen oder anderen Falte war sie umgeben von Herzlichkeit und Wärme, die von weit innen zu kommen schien. Das nahezu weiße Haar reichte bis an die Hüften hinunter. Ihre Bewegungen waren fließend und voller Anmut – zweifelsohne ein besonderer Mensch, der da vor ihm stand.

„Nun, Herr Maron“, unterbrach sie ihn in seinen Gedankengängen, „geht es Ihnen etwas besser?“

„Ja, vielen Dank.“

„Sie müssen sich sehr verfahren haben. Die Abzweigung nach Saltenborough liegt mehr als 10 Kilometer weiter zurück. Morgen werde ich für Sie den Monteur rufen. Etwa 10 Minuten zu Fuß von hier ist ein kleines Dorf. Dort finden Sie dann Hilfe.“

„Das ist sehr nett von Ihnen.“

„Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, nennen Sie mich einfach Landana. Wenn Sie wollen, können Sie im oberen Geschoss noch heiß duschen. Sie werden alles finden was Sie brauchen.“

„Das wäre wirklich schön. Wenn ich mich irgendwie erkenntlich zeigen kann ...“

„Junger Mann, ist schon gut!“

Ohne dass er es gehört hatte, war eine ebenfalls ältere Dame hereingekommen. Ihre Erscheinung glich der von Landana sehr, nur waren ihre Haare nicht ganz so lang. Jedoch schien die Ausstrahlung identisch zu sein.

„Celia, schön Dich zu sehen.“ Lächelnd trat die Dame, die ihm inzwischen als Landana bekannt war, auf die andere zu. Stirn an Stirn gelehnt, die Hand an der Wange der jeweils anderen, verharrten sie für einen Augenblick in inniger Umarmung. Erst als sich die beiden dann zu ihm umwandten, bemerkte Maron, dass er sie fasziniert angestarrt hatte - so sehr in den Anblick vertieft gewesen war, dass ihm der Atem stockte. Er erhob sich und reichte ihr seine Hand.

„Das ist Ernest Maron, Celia. Sein Wagen ist liegen geblieben und verfahren hat er sich auch. Ich habe ihm gesagt, dass er über Nacht bleiben kann.“

„Guten Abend, gnädige Frau.“ Was sagte er denn da? Er hatte ungeheuren Respekt vor beiden, warum, wusste er nicht zu benennen. Sie strahlten irgendetwas Unbestimmtes aus - etwas, das ihn ohne Zweifel berührte und sich nicht in Worte fassen ließ, sondern allein mit dem Herzen spürbar war. Und zwar auf so sinnliche Weise, dass er völlig verwirrt schien. „Ich möchte mich nun auch verabschieden. Angenehme Nachtruhe wünsche ich.“

„Wenn Sie etwas brauchen sollten sagen Sie nur Bescheid.“

Ein Stück weit erleichtert, dieser sonderbaren Atmosphäre entfliehen zu können, eilte er die Stufen hoch. Das ihm zur Verfügung gestellte Zimmer war leicht zu finden. Nachdem er eingetreten war, schloss er leise die Tür hinter sich. Was auch immer es war, das die beiden alten Damen so außergewöhnlich erscheinen ließ, er konnte es nicht greifen! Er fühlte sich tief im Innersten erschüttert, nur weil er in ihrer Nähe verweilt hatte. Dieser Moment, in dem sie sich begrüßt hatten, schien etwas nahezu Heiliges auszustrahlen. So etwas hatte er noch nie gesehen oder erlebt. Er war sowohl beeindruckt als auch verzaubert von ihnen.

Im angrenzenden Bad stellte er sich unter die Dusche, ließ das heiße Wasser an sich herunter laufen - das tat gut! Endlich beruhigte er sich. Wenig später stand er vor dem Spiegel und betrachtete, was ihm entgegenblickte. Eine Nase, die schon immer viel zu groß zu sein schien und sein Gesicht beherrschte. Der Mund normal geformt und das kurze blonde Haar stand strubbelig von seinem Kopf ab. Sein Alter war ihm anzusehen, fand er. Irgendwie zumindest. Im Gesicht auf jeden Fall. Sein Körper war schmächtig und er fand sich selbst nicht wirklich attraktiv. Aber egal. Spielte keine Rolle, grade jetzt. Er trocknete sich ab und hängte das flauschige Handtuch über den Halter. Noch einmal schaute er in den Spiegel und war froh, seine wenig männlich wirkende, dafür aber große Erscheinung in einem weichen Bademantel verstecken zu dürfen, der so eben noch passte. Warum auch immer ihm gerade das nun durch den Kopf schoss, wusste er nicht, als er nachdenklich in den Schlafraum eintrat, der ebenso gemütlich wirkte wie der Rest des Hauses. Auch hier gab es viele große Blumen. Die vorherrschenden Farben waren in hellen Pastelltönen gehalten und liebevoll aufeinander abgestimmt. Das große, auf einem dunklen Holzrahmen stehende Bett war einladend mit Kissen bedeckt. Die Wände waren aus weißen Steinen gemauert und ein dunkler Holzfußboden, der stellenweise leise knarrend nachgab, verlieh dem Raum, wie dem gesamten Haus, den Hauch von etwas ganz besonderem. Zweifelsohne war hier jemand mit Geschmack am Werk gewesen. In der Luft lag das Aroma von Lavendel, der getrocknet in einer Schüssel auf der Kommode dastand. Ein kleiner Ofen gab eine angenehme Wärme ab, daneben ein Weidenkorb mit Brennholz. Auch hier lagen dicke, flaumige Teppiche und in manchen Momenten schien es so, als würde das gesamte Bauwerk atmen … sich unerschrocken den wütenden Naturgewalten entgegenstellen.

Das Schlagen der Regentropfen ans Fenster ließ Maron wieder frösteln. Der sausende Wind, der energisch um das Haus pfiff, war ihm unheimlich. Flüchtend legte er sich unter die Decke und zog sie hoch bis zum Kinn. Doch er konnte nicht einschlafen, wand sich von einer auf die andere Seite. Räumte dann eines von den vielen Kissen weg, aber es nützte nichts. Das Klappern der noch geöffneten Fensterläden ließ ihn immer wieder hochschrecken.

Schließlich bekam er Durst. Widerwillig erhob er sich, sah auf das noch immer stürmende Wetter da draußen und schloss die Läden, wollte nichts mehr davon mitbekommen. Sich den Morgenmantel umlegend, öffnete er leise die Tür und trat vorsichtig heraus. Von unten drangen gedämpfte Stimmen zu ihm - also waren die beiden Damen noch auf und Maron schritt die Stufen hinab. Auf dem Ottomanen lagen Landana und Celia eng aneinander gekuschelt und während Landana ihren Kopf an die Schulter der anderen lehnte, strich diese ihr zärtlich übers Haar. Sie unterhielten sich leise miteinander, bis Celia Maron bemerkte und ihn freundlich heran winkte.

„Entschuldigung, ich wollte nicht stören – aber dürfte ich vielleicht noch ein Glas Wasser haben?“

„Können Sie nicht einschlafen, Herr Maron?“ fragte nun Landana.

„Nein, nicht wirklich“, antwortete er.

„Dort in der Anrichte finden Sie ein Glas und auch etwas zum Trinken, bedienen Sie sich ruhig. - Wenn Sie mögen, können Sie sich gerne noch zu uns setzen.“

„Ja, danke – es ist wirklich ungewohnt für mich. Ich habe nur ein kleines Appartement und das in einem Hochhaus. Ein solches Unwetter habe ich, glaube ich, noch nie erlebt!“

„Sie sind hier an der Küste, da kommt so etwas häufiger vor.“

„Außerdem ist das hier ein ehemaliger Leuchtturm“, fuhr nun Celia fort und lächelte vielsagend. Maron nahm einen Stuhl und setzte sich zu ihnen. Das flackernde Licht des Feuers und die leise Musik im Hintergrund hatten etwas Beruhigendes an sich. Wohlig geschützt saßen sie da, im Gegensatz zum draußen heftig tobenden Sturm.

„Sie kommen also aus der Stadt?“ fragte Landana schließlich, sich behutsam aufrichtend.

„Ja, ich bin dort aufgewachsen und wollte nun ein paar Tage auf dem Land verbringen.“

„Und da zieht es Sie nach Saltenborough?“

„Ja, dort gibt es ein schönes altes Museum und es ist eben ländlicher hier.“

„Was machen Sie denn beruflich?“ fragte nun Celia und fuhr dann entschuldigend fort, „Sie müssen sich ja wie in einem Verhör vorkommen!“

„Nein, ist schon recht so“, entgegnete er, „schließlich bin ich ein Fremder für Sie und dennoch Gast in ihrem wundervollen Haus. Ich bin Vertreter für Staubsauger, nichts Besonderes halt.“

Verlegen nahm er einen Schluck aus seinem Glas. Was auch immer da seine Fühler nach ihm ausstreckte, es schien so, als wäre es in der Lage, ihn vor sich selbst zu entfremden. Stutzend starrte er in die Flammen. Noch nie zuvor war ihm sein Beruf so unangenehm erschienen – so, als gehöre er nicht wirklich zu ihm und entstamme einer fernen Welt. Unmerklich schüttelte er den Kopf und strich sich eine störrisch in die Stirn gefallene Haarsträhne zur Seite. Ohne zu wissen, was ihn an diesen beiden Damen so nervös machte, schaute er wieder zu ihnen hin. Sie wirkten wie eine Einheit, umgeben von etwas Unbegreiflichem irgendwie.

Das Knistern des Kaminfeuers überdeckte nur zum Teil die Gewalt des noch herrschenden Unwetters und fröstelnd erinnerte ihn die übel gelaunte Kraft der Natur daran, wie müde er war. Noch einmal bedankte er sich und verschwand dann eilig ins obere Geschoss. Innerlich leicht zerstreut, kroch er unter die Decke und schlief alsbald tief und fest ein.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein sonderbares kleines Dorf

 

Der folgende Morgen war längst angebrochen als Maron endlich erwachte. Sonnenlicht drang durch die Ritzen der noch geschlossenen Läden und es war ruhig. Er reckte sich, stand schnell auf und öffnete das Fenster. Die See lag friedlich da und der Himmel war von nur wenigen kleinen Wolken durchzogen. Das morgendliche Licht gab den Blick auf die Steilküste in den schönsten Farben wieder. Ein herrlicher Tag - nichts mehr erinnerte an das heftige Treiben vom Abend zuvor.

Gut gelaunt wusch er sich, schlüpfte in die Jeans und warf sich ein gestreiftes Shirt-Hemd über. So locker, wie sein Kleidungsstil dem Urlaub angepasst war, so beschwingt fühlte er sich an diesem Tag. Kein steifes Hemd, keine einengende Krawatte, keine glattgebügelte Anzughose und kein unbiegsames Jackett wie es der Job verlangte. Den er, wenn er ehrlich war, nicht mochte. Der ihn zwang, jemand zu sein, der er nicht sein wollte. Sonderbar – dass er noch immer dieses Gefühl vom gestrigen Abend in sich spürte, als es ihm merklich unangenehm gewesen war davon berichten zu müssen, als Staubsaugervertreter durch sein Dasein zu schlurfen.

Es ging ihm anders als sonst. Was er, wenn auch nur flüchtig, zur Kenntnis nahm. Schnell noch in die Freizeitschuhe geschlüpft und frohen Mutes verließ er dann die kleine Kammer. Von unten war der angenehme Duft frischen Kaffees hochgezogen, weshalb er freudigen Schrittes die breiten Stufen hinunterging. Landana saß bereits am Tisch und winkte ihn lächelnd heran. So begrüßt zu werden war etwas vollkommen Neues, so wohltuend. Nach einem ausgiebigen und erstaunlich gemütlichen Frühstück wand sich Maron schließlich an die alte Dame mit der Bitte, den Mechaniker anzurufen.

„Das ist schon längst geschehen, Herr Maron“, sprach sie und deutete aus dem Fenster, wo er einen Abschleppwagen die Küstenstraße herankommen sah. Seine kleine Reisetasche war zügig gepackt und freundlich, wenn auch ein bisschen wehmütig, verabschiedete er sich dann. Insgeheim war er sehr dankbar über die Stunden, die er hier hatte verbringen dürfen. Etwas an ihr hatte ihn auf unbestimmte Weise berührt, und weil er wusste, dass er es nicht benennen konnte, gab er sich so zufrieden. Erfüllt von einer inneren Verbundenheit, die er nie kennengelernt hatte und deren Ursprung ihm inzwischen auch egal war, trat er aus der Tür. Zum Abschied reichten sie einander die Hände und beschwingt eilte er über den noch feucht glänzenden Kies hinweg zur Straße. Kurz noch eilte der Gedanke, dass er Celia gar nicht mehr gesehen hatte, an ihm vorbei und war im selben Moment schon wieder entschwunden.

Unterdessen war der Mechaniker, seine Mütze in der Hand haltend und sich permanent am Kopf kratzend, um den alten Ford herum gelaufen.

„Da haben Sie aber mächtig Glück gehabt“, sagte er, als er Maron näher kommen sah, „nicht viel und Sie wären die Klippen hinabgestürzt!“

„Ja, das ist wohl richtig, aber Gott sei Dank haben die netten alten Damen mich hereingelassen.“

„Die netten alten Damen?“ verwundert guckte der Mann mit einem gering schätzenden Seitenblick zum Haus hinüber und begann dann, die Seilwinde herunter zu lassen.

Maron war seinem Blick gefolgt und bemerkte nun, dass es sich bei dem Haus um die Reste eines ehemaligen Leuchtturmes handeln musste, weil es rundlich dastand. Wie ein Überbleibsel von etwas, das einmal Bedeutung gehabt und nun, im Laufe der Zeit, einen anderen Zweck zu erfüllen hatte. Vielleicht einen, den man nicht sofort und geradewegs verstehen konnte – sondern etwas, das tiefer lag als alles offensichtlich Erkennbare – etwas, das im Innern wirkte, wirken sollte!

Es war eine eindrucksvolle Ansicht – ohne jeden Zweifel: Dieses weiß verputzte Haus mit einem Obergeschoss, auf dem sich dunkel glänzende Ziegel kreisförmig nach unten arbeiteten … beinahe so, als erwarte man direkt darunter liegend noch immer das sich drehende Leuchtfeuer zu finden … am Rande einer scharfen Klippe postiert … den Gezeiten hätte hilflos ausgeliefert sein müssen und dennoch so beharrlich und unbeugsam dastand, als müsse es genauso sein – so und nicht anders!

Die Weite des Ozeans im Hintergrund vollkommen außer Acht lassend wirkte dieses Einod, als gehöre es an diese Stelle. Vermittelte, dass ihm eine Bedeutung zukam, auch ohne noch einer tagtäglichen Aufgabe nachkommen zu müssen – es war einfach nicht in Worte zu fassen! Lächelnd glitten seine Gedanken zum gestrigen Abend zurück. Noch immer hielt ihn eine Art wärmender Schauer gefangen, wenn er sich an den Anblick erinnerte, wie die beiden Frauen auf dem Ottomanen gelegen hatten. Auch wenn ihn selbst etwas so Wundervolles nicht mit einem anderen Menschen verband, so kam es ihm dennoch so vor, als hätte er teilhaben dürfen an dem, was diese alten Damen füreinander empfinden mussten.

Als sie nur wenige Augenblicke später an dem Haus vorbeifuhren, war Landana vor die Tür getreten und Maron hob grüßend seine Hand. Sie winkte lächelnd zurück und ihr fast den Boden berührender dunkler Rock wiegte sich im leichten Wind.

Der Mechaniker brummte vor sich hin. Polternd fuhr er die enge Straße in Richtung des kleinen Dorfes entlang. Im Innern des Abschleppers beherrschte der Geruch von Öl und Schweiß alles andere. Fast schon beleidigend für die Nase, welche bis eben noch den Duft eines reichhaltigen Frühstücks hatte einatmen dürfen. Ein unmerklicher Ruck ging durch Marons schlaksig wirkende Gestalt neben der kleinen, gedrungenen Figur des übel gelaunten Werkstattarbeiters, als hätte man ihn unverhofft auf den Boden der Tatsachen zurückbefördert – ungefragt.

„Das muss ja ein riesiges Pech für Sie gewesen sein, dass Sie ausgerechnet hier liegen geblieben sind“, sagte er dann. Verwundert sah Maron ihn an und fragte, wie er das meinen würde.

„Na, bei der alten Irren zu landen ist nun wirklich kein Vergnügen!“ Entsetzt starrte Maron auf den Fahrer und konnte nicht fassen, wie dieser über Landana sprach. Das hörbare Quietschen der abgenutzten Sitze konnte die plötzlich spürbare Missstimmung nicht vertuschen.

„Wieso bescheuert? Ich verstehe Sie nicht ganz! Zu mir war sie sehr nett und freundlich“, antwortete er mit einem rügenden Tonfall. Der Mechaniker tippte sich mit dem Finger an die Stirn und fügte noch hinzu, dass „die bescheuerte Alte“, wie er sie nannte, nicht ganz dicht sei. Das wüsste schließlich jeder hier in der Gegend. Nur die Tochter vom Wirt würde nach der da draußen sehen.

Maron hielt es für besser, nicht weiter darauf einzugehen. Sein Blick wanderte von dem erheblich verschmutzten Mechanikeranzug über die Schaumstoffkissen, die an etlichen Stellen durch das gerissene Leder der Sitze durchstachen. Innerlich erfüllt mit Abscheu, rümpfte er seine nach wie vor eingeschnappte Nase und dachte bei sich, dass dieser Mann wohl kaum etwas Sinnvolles über die beiden alten Damen zu sagen haben konnte, wenn er noch nicht einmal mit ihnen sprach …

Endlich erreichten sie das kleine tausend Seelen Örtchen und erleichtert stieg Maron aus dem Führerhäuschen des Lasters. Nach etwas mehr als einer endlos scheinenden Stunde stand fest, dass die Reparatur seines Autos mindestens 2 Tage in Anspruch nehmen würde. Entnervt mietete er sich in dem einzigen Wirtshaus vor Ort ein Zimmer. Spartanisch war es eingerichtet und im Gegensatz zum ehemaligen Leuchtturm wirklich ungemütlich. Ein altes Metallbett, zwei Stühle und ein kleiner Tisch, ausgeblichene Gardinen vor einem von Holzwürmern angenagten Fensterrahmen, verblasste Blumentapeten, die längst mal hätten ersetzt werden dürfen über einer halbhohen Vertäfelung. Alles wirkte, als käme selten jemand vorbei, um sich niederzulassen. Wenig erfreut darüber, hier nun ausharren zu müssen, saß er dann niedergeschlagen auf dem Bett, sich der Situation ergebend.

Flüchtig schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, ob er nicht lieber zu Landana zurückkehren sollte, um sie zu bitten, die beiden Nächte in ihrem Haus verbringen zu dürfen. Aber dann kam es ihm ein wenig zu aufdringlich vor. Schließlich kannte er sie erst seit gestern und eine solche Bitte gehörte sich einfach nicht. Enttäuscht darüber, dass es sich nicht geziemte und ein wenig bedrückt, fühlte er sich den Schwingungen dieses seltsam anmutenden Ortes ausgeliefert. Er konnte es nicht wirklich beschreiben, aber es schien das vollkommene Gegenteil zu den Vertrautheiten im Haus an der Küste zu sein.

Während er auf das Urteil der Werkstatt gewartet hatte, war er bekümmert durch die Gassen geschlendert. Kopfsteinpflaster, hier und da von wild wachsendem Unkraut gekreuzt, das stellenweise längst mal hätte repariert werden müssen und in seiner Unebenheit etwas Ablehnendes ausstrahlte … gesäumt von schon lange dastehenden Häusern, die zwar nicht tatsächlich verfallen zu sein schienen, aber deutlich reserviert wirkten … dunkles Mauerwerk, getragen von seit Langem verwitternden Ziegelsteinen … umgeben von kleinen, überwuchernden Gärten, die wenig offenbarten und sich abschirmten, egal wo der Blick auch hinfiel … von einem kleinen runden zentralen Punkt in der Mitte gingen verwinkelte Straßen ab, die wenig besser beschaffen waren, als jene, die Maron bereits flüchtig gestreift hatte … das Wirtshaus, ein Schlachter und ein Bäcker mit einem kleinen Lebensmittelgeschäft verbunden, bildeten den Ortskern, an dem sich alles sammelte – scheinbar … verloren stand eine alte Telefonzelle am Wegesrand, vom einstigen Rot kaum noch etwas zu erahnen … das Glas zerbrochen, den Hörer achtlos herabbaumelnd … stand sie entbehrlich da und schien ein Relikt aus vergangenen Tagen zu sein – als hätte man sie vergessen … ihrer einstigen Wichtigkeit enthoben, weil sie eine Verbindung zum Rest der Welt herstellen konnte, den man aber nicht wollte … sie deshalb in gleichgültige Ignoranz tauchte … das Rathaus oder was auch immer es sein sollte, gab es nicht als solches – sondern ein imposant wirken wollendes Gebäude, das sich darin von den umliegenden unterschied, dass es größer war als alle anderen … auffallend durch eine schwere Holztür, die in ihrer massiven Erscheinung nicht unbedingt zum Öffnen einlud … der Knauf verwittert und der Klingelzug rostig anmutend … anhand eines immerhin deutlich polierten Messingschildes erfuhr man, dass sich hier der Gemeindevorsteher finden ließ … die Blicke der wenigen Passanten hingegen waren offensichtlich durchleuchtend … ermittelnd … achtgebend … ein Fremder – was wollte der hier? Die Atmosphäre war innerlich zerfressend – ja, so könnte man es beschreiben. Nicht wirklich ungepflegt, aber eigenwillig, bewacht – fern ab von dem, was Maron als vertrauenerweckend wahrnehmen würde!

Um die Mittagszeit schlich er sich förmlich in die Gaststube hinunter und setzte sich an einen der kleinen Tische mit Fensternischen. Am Tresen fanden sich mehrere Männer, die ihr Bier vor sich stehen hatten und miteinander über das anstehende Dorffest sprachen, bis dann der Mechaniker eintrat. Die ohnehin schon beinahe übermächtige Beklemmung in Maron nahm schlagartig zu. Alle wirkten ein wenig absonderlich. Die Kleidung von der Arbeit verdreckt, was aber niemanden zu stören schien. Der Geruch von abgestandener Luft, die geschwängert war von kaltem Rauch als auch nach Alkohol riechend, machte das Aushalten unter den heimischen Männern sehr schwer, fast schon schier unerträglich.

Verstohlen saß er in seiner Ecke und stocherte lustlos in dem Teller derben Eintopfes herum. Er schmeckte nicht und angewidert schob er den Teller endgültig beiseite, als er die Gesprächsfetzen aufschnappte. Man witzelte über die Alte an der Küste. Einer der Herren rief zu ihm herüber, dass es schon erstaunlich sei, dass er die Nacht dort draußen überhaupt überlebt hatte. Maron wusste nichts zu entgegnen und verließ das Gasthaus eiligen Schrittes.

Draußen an der frischen Luft verharrte er einen Moment und atmete tief ein. Langsam ging er los und dachte darüber nach, was diese Menschen hier wohl an der alten Dame auszusetzen haben mochten. Alles, was er bisher mitbekommen hatte, war dummes Geschwätz von Leuten, die wohl außer ihren Kuhställen und Äckern nichts mit sich und ihrer Zeit anzufangen wussten als über das zu lästern, was offensichtlich außerhalb ihres Horizontes zu liegen schien! Zweifelsohne prallten hier zwei Welten aufeinander – allein, was die Atmosphäre als auch das Wesen, die Ausstrahlung betraf …

Es machte ihn zunehmend wütend, ohne dass er eigentlich erklären konnte, warum und wo dieses Gefühl mit einer solchen Intensität hergekommen war. Womöglich lag es ganz einfach daran, dass er im alten Leuchtturm so etwas wie Geborgenheit verspürt hatte? Wohlig und warm hatte es sein Innerstes berührt und schon jetzt musste er feststellen, dass es ihn zweifelsohne wieder zu Landana und Celia zu ziehen begann. Er bekam Sehnsucht nach der Nähe der beiden Damen und das alles verwirrte ihn.

Der Gang an der frischen Luft machte es wenigstens ein bisschen besser. Er hatte das Dorf längst hinter sich gelassen und wand sich nun den Wiesen und Weiden zu, die sich bis zur Küste hin erstreckten. Was hatte er bisher für ein Leben geführt?

Er war ein Mann, Mitte dreißig und noch immer alleinstehend. Als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte er seine Mutter verloren. Da er seinen Vater nicht kannte, hatte er seine Jugend in einem Heim verbracht. Das wenige, was er dort an Nähe bekommen konnte, war nicht ausreichend und ließ ihn zum Einzelgänger werden, der lieber seine Nase in Büchern vergrub als sich mit anderen Menschen zu beschäftigen. Er traute niemandem – jedenfalls nicht wirklich. Weil er sein Studium nicht finanzieren konnte, war er schließlich eines Tages resignierend als Staubsaugervertreter bei einer Firma im Außendienst gelandet, ganz einfach weil er gut reden konnte, zumindest war es meistens so. Auch wenn er sich selbst stets vorkam, als trage er unentwegt eine Maske vor seinem Gesicht. In seiner freien Zeit war er eben aus dem Grund lieber allein, träumte vor sich hin und beschäftigte sich viel mit dem Altertum. Die Menschen mit ihrem Konsumdrang und den ständigen Einflüssen jeglicher Art von Ablenkung nervten ihn. Er hatte keine Freunde und doch wusste er tief in sich eine Sehnsucht atmen, die nach Wärme dürstete. Womöglich lag es an der Oberflächlichkeit seines beruflichen Alltages, weshalb es ihn während seines Urlaubs immer hinaus aufs Land gezogen hatte - in der Hoffnung, so seine Ruhe finden zu können vor dem, was ihn regelmäßig die Flucht ergreifen ließ!

 

 

 

 

 

 

 

Ein unerwartetes Wiedersehen

 

Inzwischen hatte er die Küstenstraße erreicht. Maron trat dicht an die Absperrung heran und sah tief unter sich den schmalen Strand. Eine steile Treppe führte hinunter, nur wenige Meter von ihm entfernt. Noch feucht glänzend lagen die roh in den Fels geschlagenen Stufen im Sonnenlicht da. Kurz entschlossen betrat er den Abstieg, froh über die sichere Sohle seines Schuhwerkes und schritt vorsichtig hinab. Das Geländer schien ebenso verfallen zu sein wie die Begrenzung der Straße oben, aber etwas drängte ihn trotzdem dazu, hinunterzugehen und auf das Meer zu schauen.

Endlich erreichte er den groben Sand, der durchzogen war von vielen Steinen und Muscheln. Seinen Mantel darauf ausbreitend setze er sich schließlich hin und genoss die Sicht auf die Weite des Ozeans. Eine leichte Brise wehte, tauchte ihn ein in etwas, das ihn die vergangenen Stunden in der kleinen Ortschaft distanziert betrachten ließ, ihm innerliche Freiheit als auch Friedfertigkeit schenken konnte, weil er sich an das Haus an der Steilküste mit seiner lieblichen Bewohnerin erinnerte – voller seelisch nicht wirklich zu greifender Wärme. Geborgenheit – das war es, was er dort empfunden hatte.

Wie, als wolle er diesen Gedanken unterstreichen, nickte er zustimmend vor sich hin. In diesem Moment als er in die Ferne schaute, entrückt war von allem was unerwartet auf ihn eingestürzt war – von den Menschen dieses so eigenwillig scheinenden Landstriches, die ihn gering schätzenden Blickes gewürdigt hatten oder auch von ihrem abwertenden Gerede über Landana, die er so sehr ins Herz geschlossen hatte – ging es ihm wieder gut … so, als könne er endlich wieder frei atmen. Weit weg von dort, wo er sich wie ein Eindringling fühlte und zudem noch dazu verdammt war länger verharren zu müssen – ohne es zu wollen! Dann jedoch kam in ihm der Gedanke auf, ob es wohl mit Landana zu tun haben mochte … Wäre es ihm ebenso in dem Dorf ergangen, wenn er nicht zuvor bei ihr Unterschlupf gefunden hätte? Wie eine eingeschworene Gemeinschaft schienen sie zu sein – alle gegen das eine, das so besonders war und das er trotz der Kürze des Erlebens nicht mehr missen wollen würde!

Sanft drang ein Geräusch an seine Ohren und verwundert sah er zur Seite. Ein kleines Stück von ihm entfernt erkannte er Landana, die langsam auf ihn zukam. Ein freudiges Lächeln lag im selben Moment auf seinem Gesicht ob dieses unerwarteten Wiedersehens!

„Herr Maron? Sie sind ja noch hier…“, fragte sie ihn erstaunt ansehend.

„Ja, mein Wagen wird leider erst in 2 Tagen fertig sein.“

„Ach – das ist aber schlecht, oder? Wo bleiben Sie denn solange?“ Sie war inzwischen dicht neben ihn getreten und er hatte sich erhoben, um nun mit ihr sprechen zu können. Sie war wesentlich kleiner als er, aber man saß nicht auf dem Boden rum wenn ein so außergewöhnlicher Mensch mit einem sprach, fand Maron.

„Ich habe mir ein Zimmer gemietet“, sagte er dann und sah verlegen zur Seite. Die alte Dame schaute ihn lächelnd an.

„Ob es da so schön ist?“ fragte sie schließlich.

„Nein“, sagte er, „es ist grauenvoll!“

„Das habe ich mir gedacht. Gehen wir ein Stück?“ fragte sie unvermittelt. Nickend stimmte er zu und sie schlenderten nebeneinander her am Strand entlang. Maron konnte kaum erklären was vor sich ging. In seinem Innern hatte es wohlig zu leuchten begonnen, als er die alte Dame erkannt hatte. Welch ein Zufall dachte er bei sich, als er sie mit einem leichten Blick streifte. Da hatte er sich nach ihr gesehnt, ohne erklären zu können, warum eigentlich und nur kurz danach, war er ihr erneut begegnet ... Sie hatte etwas mütterlich Wärmendes an sich, vielleicht war das der Grund?

„Erzählen Sie mir von sich, Herr Maron“, sprach sie nun.

„Hm, da gibt es nicht viel, das sich lohnen würde. Aber bitte nennen Sie mich doch Ernest.“

„Na gut, Ernest. Haben Sie Familie?“

„Nein, leider nicht, aber ich bin es auch nicht anders gewohnt ...“

„Warum?“ fragte sie schließlich.

„Ich habe meine Mutter früh verloren und wuchs im Heim auf.“

„Oh, das tut mir leid“, sagte sie, „das war bestimmt nicht einfach.“

„Nein, war es nicht“, antwortete er und starrte auf die offene See hinaus. Bei dem Gedanken an das triste Zimmer und die anderen Kinder, die allesamt nicht wirklich glücklich waren, weil sie aus den unterschiedlichsten Verhältnissen kamen, wurde ihm noch heute mulmig im Innern. Geprägt durch ihre eigenen Geschichten hatte es ständig Streitigkeiten und Machtkämpfe gegeben, Rangeleien waren an der Tagesordnung und anerkannt war, wer Stärke demonstrierte. Das Gefühl von „Verlassen sein“ und „auf sich selbst gestellt sein müssen“ war stets präsent. Er war nicht der Typ, der forsch auf andere zugehen konnte, sondern immer auf Rückzug eingestellt war, wenn sich von irgendwoher ein Drama ankündigte, das zu eskalieren drohte. Seine Zuflucht war die Welt der Bücher, damals wie heute … sich gedanklich in andere Sphären treiben lassen, um das Elend im Diesseits nicht ständig vor Augen haben zu müssen und daran erinnert zu werden, wie wenig er sich angenommen fühlte als derjenige, der er war.

„Und später dann, nie die Gelegenheit gehabt, eine eigene Familie aufzubauen?“

„Nicht wirklich. Jedenfalls ist mir nie die Frau begegnet, mit der ich mir das hätte vorstellen können ...“ Er bemerkte, dass Landana ihn betrachtete. Etwas an ihrem Blick forderte ihn auf, ihr nicht auszuweichen … und so blieben sie stehen und schauten sich einfach in die Augen. Erst nach einer Weile lösten sie sich voneinander und es war, als wäre da ein tiefes Verstehen gewesen – so, als könne sie bis weit in ihn hineinschauen und seine Seele wärmen – ja, sie zum Strahlen bringen auf eine Art. Ihm bewusst machen anhand der emotionalen Regungen in ihm, dass da noch ganz viel Lebensdurst vorhanden war. Schließlich wand sich die alte Dame um und schlug den Weg zurück zum ehemaligen Leuchtturm ein.

„Kommen Sie, Ernest – wir trinken noch eine Tasse Tee bei mir, wenn Sie mögen …“

„Ja, sehr gerne sogar“, antwortete er vor Freude. Im Stillen konnte er seine überaus große Erleichterung kaum zurückhalten – dieses Haus noch einmal in seiner ganzen Pracht erleben zu dürfen...

Schweigend gingen sie nun an der steinigen Felswand entlang. Schon von Weitem konnte man sehen wo das Haus, der ehemalige Leuchtturm, stand. Erhaben wirkte es, von hier unten betrachtet umso mehr – und wieder dachte er bei sich, es stehe da, als müsse es genauso sein und nicht anders!

Wie es wohl ausgesehen haben mochte zu Zeiten, in denen es noch den Schiffern auf See ein Signalzeichen gewesen war? Über allem am Rande dieser steilen Klippen thronend … in jede Himmelsrichtung weithin sichtbar gewesen sein muss … Warum auch immer dieser Aufgabe enthoben schien das, was vom einstigen Turm verblieben war, dennoch keinen Zweifel an seiner berechtigten Existenz aufkommen zu lassen … imposant auf seine Art … als Verlängerung zum schroffen dunklen Gestein der Küste, hob es sich doch unübersehbar von dieser ab. Der weiße Anstrich als auch die eindrucksvoll im Sonnenlicht leuchtenden Schindeln strahlten Freundlichkeit und einen stillen Willkommensgruß aus – selbst von da wo er jetzt ging - herrlich und faszinierend, wie er fand. Welch ein absoluter Gegensatz zu der niederzwingenden Beklemmung im Dorf!

Eine salzig frische Brise wehte vom Meer auf sie zu und fröstelnd zog Maron den Mantelkragen höher. Die alte Dame neben ihm hatte eine ebenso aparte Ausstrahlung wie ihr Haus. Sie trug einen langen Rock, der leise vor sich hin wallte, und war in einen wollenen Umhang gehüllt. Das deutlich ergraute Haar, das einmal tiefschwarz gewesen sein musste, wehte im Wind. Im Gegensatz zu den meisten älteren Frauen, die er kannte, war ihres stets offen und hing ihr lose den Rücken runter. Kein Dutt hielt eingeengt was so auch viel schöner wirkte. Anziehend und verständnisvoll war sie, beinahe so, als würde sie ihn erkannt haben in jenem Moment, in dem sie ihn angesehen hatte. Aber das Sonderbarste daran war, so fand Maron, dass es ihm nicht unangenehm war – noch nie hatte er sich einem anderen Menschen auf so unbeschreibliche Weise nahe gefühlt und war nicht gleich in Angst und Panik verfallen!

Er genoss es sichtlich neben ihr hergehen zu dürfen. Fühlte sich innerlich stolz und brachte dieses zum Ausdruck, in dem er aufrecht neben ihr her schritt. Leise lächelnd über die schmähenden Worte der Dorfbewohner, die ihm so weit entfernt vorkamen – in diesem Moment. Nicht viel und ein sogenannter Beschützerinstinkt wäre in ihm erwacht. Wobei er glaubte, dass es bei den hier heimischen Leuten vergeblich sein würde, ihnen ihre geistige Eingeschränktheit vor Augen zu führen. Wer nicht wollte, den konnte man auch nicht zwingen, Einsicht zu üben und respektvoller mit anderen umzugehen. Das jedoch war überall so und nicht nur für diesen Landstrich bezeichnend. Sein Statement, dass er Landana über alles schätzte, war ausreichend genug. Im Gegensatz zu den meisten anderen hier widerstrebte ihm die Nähe der „bescheuerten Alten“ keineswegs und das konnte, durfte und sollte auch ruhig jeder sehen!

Die allmählich untergehende Sonne, die eine rötliche Färbung auf die markanten Gesteine zeichnete und das Rauschen der Wellen – nein, er würde nicht dorthin zurückwollen, zu jenen Menschen, die nur Verachtung für das übrig hatten, was ihm binnen kürzester Zeit so wertvoll hatte werden können. Wenn er könnte, würde er viel lieber bei Landana bleiben ... ohne Frage!

Nach einer Weile erreichten sie eine ebenso steile Treppe, wie die, welche er hinuntergestiegen war. Bedächtig schritt Landana voran und Maron achtete auf jeden ihrer Schritte, sofort gefasst darauf sie zu halten, falls sie stolpern würde. Aber er musste zugeben, dass sie trotz ihres Alters in ihren Bewegungen nicht gebrechlich schien und den Aufstieg sehr gut meisterte.

Im Haus angekommen, war es schön warm und Maron legte wie von selbst ein Holzscheit in den Kamin, während die alte Frau den dampfenden Tee aufgoss. Etwas unbeholfen stand er schließlich auf, als er merkte, dass er auf dem weichen Teppich gesessen und in die Flammen geschaut hatte.

„Bleiben Sie ruhig da sitzen, wenn Sie sich wohlfühlen ...“, sagte sie weise lächelnd und Maron sank wieder auf das flauschige Weiß. Auf einem kleinen Tisch stellte sie das Tablett mit den Plätzchen und dem Tee ab und setzte sich schließlich selbst auf den Ottomanen.

„Nun, Herr Maron – wollen Sie lieber die beiden Nächte noch hier bleiben?“ fragte sie dann.

Erschrocken sah er sie an. Wie konnte sie das gewusst haben? Aber – war es wirklich verwunderlich, dass sie darauf gekommen war?

„Gerne – sogar sehr gerne“, antwortete er dann und bot den Anblick eines kleinen Jungen, wie er am Boden mit seiner Tasse in der Hand verweilte und dankbar zu der alten Dame aufschaute. Das blonde, kurze Haar vom Wind noch verwuschelt, mit einem kindlichen Blick in den hellgrauen Augen. Im Schneidersitz die Beine gekreuzt, die achtsame Haltung der Teetasse, wie wenn man sehr darum besorgt ist, etwas nicht zu zerbrechen. Seine kleinen Grübchen gaben ihm dennoch etwas leicht Verschmitztes. Auch wenn man ihn nicht als „männlich markant“ beschreiben würde, war es im Augenblick eher seine Körperhaltung und der verlegene Blick, die ihn zum Jungen werden ließen. Man sah ihm sein Alter durchaus an, aber ihm fehlte das verwegene oder wie auch immer man das nennen wollte. Er war mehr ein Denker, was seine hohe Stirn erkennen ließ und nicht der Mensch für grobe körperliche Arbeiten. Ein schöner Mann, dem man ansah, dass er noch auf der Suche war. Schmunzelnd hatte sie ihn angeschaut und sich dann in die vielen Kissen zurück gelehnt, die Beine seitlich neben sich ausgestreckt.

Es störte ihn überhaupt nicht, dass sie für eine ganze Weile nicht miteinander sprachen. Mehr noch, es war ein unheimlich starkes Gefühl von Vertrautheit in ihm erwacht, von Ruhe und Besonnenheit, verhalten unterwandert mit Scharfsinn … von so etwas wie „alles ist gut“, weil sie dasaß, wie sie eben da saß und ihre Ausstrahlung oder was auch immer, ihn liebevoll umarmte. Ihr Ellenbogen ruhte auf der Lehne des Ottomanen und das Kinn hatte sie auf ihre Hand gestützt. Das Haar umspielte ihr Gesicht und fiel in groben Locken wellenförmig an ihr runter. Irgendwie war das dunkle Braun ihrer Iris fast schon schwarz und dennoch voller Leuchtkraft, sie schimmerten im Widerschein der Flammen. Sie trug dicke wollene Socken im Haus ebenso wie ihr nicht nur heute ein langes, gestricktes Cape über die Schultern gelegt war. Darunter eine Bluse, die nicht bis zum Hals zugeknöpft war, sondern ein kleines Kreuz an einer silbernen Kette baumelnd offenbarte. Die zarten, feingliedrigen Hände als auch ihr Dekolleté waren zwar vom Alter gezeichnet und doch von nur wenigen kleinen Falten überzogen. Ihr Teint insgesamt war dunkel, samtweich glänzend. Was aber das Entscheidende an ihr zu sein schien, war ihr stetes Lächeln, das auf ihrem Gesicht, vor allem aber in ihren Augen stand. Auch dann, wenn die Lippen aufeinanderlagen und nur gerade eben die Mundwinkel sich hoben.

Er spürte, dass ihr durchaus bewusst war, wie sie auf ihn wirkte. Leicht amüsiert hatten ihre Augen ihn voller Liebe angelächelt und ihm so vermittelt, wie willkommen er war. Eine Erfahrung, die er noch niemals zuvor in seinem Leben gemacht hatte.

Schleichend setzte sich die Vermutung in ihm durch, dass gerade das ein Teil dessen sein konnte, weshalb die Dorfbewohner anscheinend nicht mit Landana klarkamen ... Es war ja auch etwas ganz Besonderes – sie sah einen an mit einer Eindringlichkeit, die erkannte, aber nicht verletzte. Ja, so könnte man es bezeichnen, dachte Maron. Verbunden mit einer Weisheit, die zweifelsohne in ihr ruhte. Die Anmut, mit der sie sich bewegte, war etwas durchaus Seltenes, ohne Frage. Aber selbst wenn sie einfach nur dasaß hatte sie jenen Glanz um sich.

Längst war der Abend angebrochen. Landana erhob sich und begann das Essen vorzubereiten. Maron war ebenfalls aufgestanden und half dabei. Es bedarf nicht vieler Worte. Er war zu sehr mit sich und seinen Gefühlen beschäftigt und musste feststellen, dass ihm das völlig neu war.

„Warum nur ist es hier so anders?“ fragte er dann, als sie längst bei Tisch saßen.

„Was ist denn anders, Ernest?“

„Alles irgendwie ... so etwas habe ich noch nie erlebt. Es ist – ja, als wäre man in einer anderen Welt, glaube ich“, sagte er langsam.

„Das kann schon sein“, erwiderte sie schmunzelnd, „zumindest wenn Sie bisher keinen Ort hatten, an dem Sie wirklich zu sich selbst finden konnten ...“

Nachdenklich sah er sie an und nickte schließlich. Was hatte er schon in seinem Leben bisher an Nähe gehabt? Im Grunde war er ein aus tiefstem Inneren trauriger Mann, einsam - und voller Sehnsucht nach menschlicher Wärme ...

Vielleicht hatte er Nähe nicht annehmen können, ganz einfach, weil er es nie gelernt hatte? Woran erkannte man, dass es sich für einen anderen Menschen lohnte und dass dieser einen nicht umgehend verletzen würde? Überrascht hob er den Kopf. Da war so ein Geräusch, es schallte von draußen zu ihnen rein. So ein tiefer Glockenschlag. An Landana ließ sich nichts ablesen als er sie fragend anschaute. Ob sie das ebenfalls gehört hatte oder irritierend fand, konnte er nicht erkennen, weshalb er wieder seinen Gedanken nachhing.

Er hatte seinen Glauben verloren und das schon vor langer Zeit. Bisher hatte nichts ihn dazu veranlassen können, von dieser fest stehenden und sich andauernd ungebeten bestätigenden Überzeugung, dass es so etwas wie wahrhaftige Herzenswärme unter den Menschen nicht gab, abzulassen. Schon früh hatte er begreifen müssen, dass es wenig Sinn machte, sich an andere zu klammern. Wenn er an die Anfänge zurückdachte, dann steckte ihm noch immer jener Kloß im Hals, den er wohl niemals vergessen würde.

Ohne dass er es bemerkt hatte, war Celia eingetreten. Leise trat sie an den Tisch und Landana erhob sich, um sie inniglich in den Arm zu nehmen. Die Köpfe dicht beieinander verharrten sie wie am gestrigen Abend auch schon einen Moment lang, bevor sie sich ihm lächelnd zuwandten. Celia reichte ihm die Hand und er erwiderte den Gruß ein wenig benommen. Sonderbar, man hörte ihre Schritte gar nicht ... Nur andeutungsweise dachte er darüber nach als sie zusammen wieder zum Kamin gingen und er sich ganz selbstverständlich auf den Teppich davor setzte, während die beiden alten Frauen sich aneinander kuschelnd auf dem Ottomanen niederließen.

 

 

 

 

 

 

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© Jasmina Marks