Lotta, wie sie ist

 

 Lotta war, wie sie eben war, ein stets nachdenkender Kopf und das würde wohl auch so bleiben. Weil es viel zu viele Dinge auf dieser Welt gab, die sie einfach nicht verstehen konnte. Deshalb gerne mal den Sachen auf den Grund ging, zumindest ein bisschen. Eben so weit, wie es erforderlich war, um sich eine Meinung bilden zu können. Insbesondere wenn man wie Lotta, hin und wieder das Gefühl bekommt, geblendet, am Denken gehindert, gezielt und bewusst klein gehalten zu werden. Dann erst recht schaute sie nach, wollte Bescheid wissen, über was auch immer …

 So auch dieses Mal, als sie sich zu fragen begann, wo denn eigentlich die vielen moralischen Vorgaben herkamen, die zahlreichen Vorschriften, an die sich Menschen zu halten hatten und es letztendlich doch nicht taten, ausbrachen, wenn sie es denn konnten. Wo kamen die alten Ängste her, vor Dämonen, dem Satan? War deshalb der Glaube an Gott etwas, das so wichtig war? Weil es gefährlich war, sich den düsteren Mächten der Welt zu stellen? Oder glaubte man, sich mit einer innigen Hingabe an den Herrn im Himmel vor den bösen Kräften schützen zu können? Weil sie so furchterregend waren? Man diese als so grauenhaft dargestellt bekam?

 Sie gerade deswegen mal auseinander zu nehmen, gedanklich sich mit ihnen auseinander zu setzen, musste doch irrsinnig spannend sein, oder nicht? Denn eigentlich war Lotta der Meinung, dass alles, worüber man nachdenken konnte, es ergründen konnte, nur noch halb so schlimm war. Man sich davor nicht mehr fürchten musste, oder? Im Gegenteil, meistens sogar verflogen die Sorgen und Ängste in dem Augenblick, in dem man bereit war, sich den Dingen zu stellen. Dann kam man sich nicht mehr hilflos ausgeliefert vor, ohnmächtig davorstehend. Es machte immer Sinn mit offenen Augen um sich zu schauen. Daran glaubte Lotta ganz fest!

 Grundsätzlich ist ja der Gedanke an Satan ein eher furchteinflößender. Woher kommt das eigentlich? Dämonen? Luzifer? Gefallene Engel? Was sollte das letztlich alles bedeuten? Gibt es den Teufel eigentlich wirklich? Im Hades? Mit einem brennenden Dreizack in seiner Hand, Hörnern auf der Stirn und rotglühend? Die Unterwelt an sich? Musste man sich ernsthaft davor ängstigen?

 Da es ja schließlich auch etwas Überirdisches gab, also etwas, dessen Macht weit über unserer liegt, könnte es, rein theoretisch, auch etwas geben, das sich unter uns anordnet, das ein Gegengewicht bildet zum Himmlischen, logisch, es gab schließlich immer zwei Seiten. Das Gute und dementsprechend halt auch das Böse. Hm – ja aber – Lotta konnte nicht anders und hatte umgehend ein „aber“ auf der Zunge liegen. Weil nämlich, wenn es nicht so viele Mythen gäbe, die sich eben darum ranken, könnte man es bedingungslos schlucken. Lotta war sich einfach nicht sicher über das, was sie glauben konnte und was vielleicht aus anderen Gründen unter die Menschen gebracht wurde. Sozusagen. Dummerweise erschien es ihr meistens eben nicht wirklich plausibel, was man ihr da Glauben machen wollte. Als etwas real Existierendes. Denn brauchte es tatsächlich eine „Unterwelt“, bei all dem Elend, das sich direkt unmittelbar vor unseren Augen abspielt? Was sollte da denn bestehen können, das noch schlimmer war, noch grausamer? Als es die Menschen schon von selbst zustande brachten!

 

 

 

 

 

Die sieben Todsünden

 

 Zum Beispiel was die Teufelsaustreibungen betrifft. Menschen, die angeblich von Dämonen besessen waren oder die sieben Todsünden, die genau genommen keine waren. Jedenfalls keine Todsünden im eigentlichen Sinne, sondern eher schlechte Charaktereigenschaften, die man aber trotzdem nicht unbedingt haben sollte. Besser wäre es nämlich, wenn keine dieser Verhaltensweisen als Kennzeichen eines bestimmten Menschen gelten würden – schon gar nicht von einem selbst! Wäre wohl heilsamer, ganz klar und doch gibt es sie: gierige Menschen, von Neid zerfressene, eitel und stolz Daherkommende, maßlos unter Umständen. Es gibt sie überall unter uns. Aber nahmen wir das noch als „Todsünde“ war? Wohl kaum. Obwohl vielleicht die Folgen dessen doch erkennbar waren. Es tut einem nicht gut, wenn man so ist, keine Frage!

 Denn eben die gerade beschriebenen Eigenschaften gelten ja als „Todsünde“. Da waren nämlich:

 

Superbia, der Hochmut, mit anderen Worten Eitelkeit, Stolz und Übermut:

Alles keine Fremdwörter in der heutigen Zeit, gerade auch so etwas wie manchmal übermütig sein zu dürfen, konnte etwas überaus Positives in sich bergen, fand Lotta. Und so sehr sie es auch versuchte, sie konnte einen ernsthaften Beleg dafür, diese Eigenschaft als „Todsünde“ zu betrachten nicht finden. Allerdings, das musste sie schon zugeben, kam es auf den Umstand, die Voraussetzung an. Wer zu festgefahren war, was seine Lebensbedingungen betraf, stets diszipliniert, sich selbst vollkommen vergessend und gezielt ausblendend seinen Alltag bestritt, dem würde eine Packung „Übermut“ wohl zu etwas mehr Lebensfreude verhelfen können! Im Gegensatz natürlich zu denjenigen, die ständig auf der Überholspur verweilten, die bräuchten eher eine Bremse, schadeten sich durch zu viel davon. Wer zu hochmütig durch die Weltgeschichte trabte, der traf, früher oder später auf eine Persönlichkeit, die einem solchen Verhalten schnell und unkompliziert ein Ende setzen konnte. Wer zu weit oben schwebt, der fällt früher oder später, garantiert. Das ist der Lauf der Dinge, der geschieht von ganz allein.

 

Avaritia, der Geiz oder eben halt die Habgier:

Hm – ist wohl eher bei jenen zu finden, die auch viel haben. Wer nix hat, der gibt gerne von dem wenigen, weil er gelernt hat, materielle Dinge anders einzuschätzen als menschliche Nähe beispielsweise. Es ihm überhaupt nichts ausmacht, wenn er glaubt, einem anderen eine Freude machen zu können. Wer krankhaft geizig ist, ist in sich schon ein unzufriedener Mensch. Denn die gibt es auch, unzufriedene Menschen, die alles an sich raffen, aus lauter Angst, etwas zu verlieren. Vielleicht haben sie schon mal einen schmerzlichen Verlust erlitten, weshalb sie das Leben gelehrt hat, lieber vorsichtiger zu sein und zu horten, was auch immer. Die Frage ist, ob das noch als etwas gelten kann, was dem Begriff „Todsünde“ wirklich gerecht wird - fraglich.

 

Luxuria, auch Wollust genannt, Ausschweifung, Genusssucht als auch Begehren:

Das war ja sowas von klar, dass auch die Sexualität in die Riege der „Todsünden“ ihren Einzug gefunden hat. An dieser Stelle konnte Lotta nichts anderes tun, als mit dem Kopf zu schütteln, ganz ehrlich. Eine Seele zu begehren, die man aus tiefstem Herzen liebt, war alles andere als eine Sünde. Im Gegenteil, war eben genau das, was es sein sollte(!). Ohne Zweifel gibt es allerdings auch jene, die den eigentlichen Bezug dazu verloren hatten und sich am meisten durch Ausschweifungen selbst schadeten. Was ihnen früher oder später auch bewusst werden würde. Man könnte, fand Lotta, natürlich auch auf die Idee kommen, wenn man denn ziemlich verschroben war, dass gerade weil die Sexualität permanent und ständig wiederkehrend als etwas „schlechtes, abartiges oder überaus verwerfliches“ propagiert wurde, es zu Verwirrungen kam. Diese Sichtweise mit aufrechtem Zeigefinger von den Mächtigen gefordert wurde, jenen die das ethische Sagen hatten und die ihr eigenes moralisches Verständnis allen anderen aufzwängten. Diese trugen letztendlich auch die Verantwortung dafür, dass so vielen Menschen einfach nicht klar werden konnte, worauf es denn eigentlich wirklich ankam. Weil zu sehr eingepfercht in Regeln und Normen, indem man den Menschen Fesseln angelegt hatte, kein Raum zur Orientierung bleibt. Wer bitte soll sich da denn noch selbst finden können? Lotta schnaubte deutlich hörbar vor sich hin. Unfassbar, wieder einmal. Was alles dabei herauskommen kann, wenn man die Dinge verfälscht. Negativ darstellt, was doch im Grunde wundervoll war! Wenn es denn getragen wurde von ehrlicher Liebe. So etwas konnte Lotta richtig wütend machen, wenn sie länger darüber nachdachte.

 

Ira, der Zorn, die Wut und die Rachsucht:

Naja, kennen wir alle. Wir waren alle schon mal richtig wütend auf wen auch immer. In den seltensten Fällen ist Wut zu empfinden „falsch“. Eigentlich ist es gut, wenn man mal so richtig sauer ist auf denjenigen, der einem was angetan hat. Lotta war sogar der Meinung, dass Wut an sich ein guter Antreiber war. Wenn sie denn in den richtigen Bahnen gelenkt dazu führt, dass eben derjenige, der gebrochen wurde durch die Worte oder Taten eines anderen, aufsteht, für sich selbst, sich auflehnt und den vermeintlich Stärkeren entmachtet! Wut kann ein Teil des Weges sein und sollte es auch, unbedingt sogar. Bis man an dem Punkt angekommen ist, dass man sich ihrer entledigen kann. Nur wer sich ihr stellt, kann sie hinter sich lassen und dann, und zwar nur dann, für sich selbst, mit gefestigtem Rückgrat dauerhaft bestehen und vor wiederkehrenden Verletzungen selbiger Art gewappnet sein! Wer sich eben nicht stellt und sich weigert, an sich zu arbeiten, tja, der mag wohl in so etwas wie Rachsucht verfallen können. Ohne Frage ist Rache genau der falsche Weg, das sah auch Lotta so. Aber ist das deswegen einer Todsünde würdig, weil man den richtigen Weg nicht gefunden hat?

 

Gula, Völlerei, Gefräßigkeit und Maßlosigkeit, oder auch Selbstsucht:

Jaja, das sind so Sachen, die kennen wir auch alle. Wir sind alle hin und wieder maßlos, neigen zur Gefräßigkeit (bei Familienfeierlichkeiten, in der kuschligen Adventszeit oder so) und denken an uns selbst. Genau genommen müssen wir auch an uns selbst denken dürfen, denn wenn es nicht wir selbst tun, wer soll es denn dann für uns erledigen und auch wirklich vertrauensvoll „gut“ mit uns meinen? Wohl nur eben jene, die uns am Herzen liegen und die wir aufrichtig lieben. Eine Obrigkeit ist es mit Sicherheit eben nicht, denn die fordert nur etwas von uns, weil sie davon profitiert und nichts anderes. Dennoch ist es eine grundsätzliche Angelegenheit, das richtige Maß zu finden, von was auch immer. Ausgewogen ist es nur dann, wenn man eben immer für ein Gegengewicht Sorge trägt und auch das kann nur jeder für sich selbst entscheiden, herausfinden und einschätzen, womit es ihm gut geht und er sich wohlfühlt!

 

Invidia, auch eine böse Sache, der Neid, die Eifersucht, Missgunst im Allgemeinen:

Ziemlich weit verbreitet, wenn man es recht bedenkt. Wenn nicht sogar das größte Übel unserer Welt schlechthin, im Kleinen wie auch im Großen betrachtet. Auslöser für diese Gefühle ist stets eine individuelle Unzufriedenheit, aus welchen Gründen auch immer. Auf welchen Bereich auch immer bezogen, ob persönlich oder beruflich, familiär oder einfach im Ganzen. Wer mit seinem Dasein hadert, sollte sich auf den Weg machen und sein Leben überdenken. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, um so fiese Gefühle wie den Neid loszuwerden, egal ob unterschwellig brodelnd oder offen vor sich hergetragen. Eines der grausamsten Gefühle, dachte Lotta, und erst recht, wenn man eingeimpft bekommt, das eigene Schicksal zwingend zu tragen, weil es von Gott so befohlen wurde. Etwas Schlimmeres kann man den Menschen wohl nicht antun, als ihnen so etwas als unantastbare Wahrheit aufzuerlegen. Aber darüber hatte sich Lotta schon oft genug aufgeregt, geärgert.

Und als letztes

Acedia, die Faulheit, auch Feigheit, Ignoranz und als Trägheit des Herzens umschrieben:

Naja, Feigheit ist wohl etwas ganz anderes als Faulheit. Der Feigheit liegt Angst, blanke Angst zugrunde, der Faulheit wohl eher „träge“ oder zu „bequem“ für etwas zu sein, es als zu „mühsam“ zu betrachten. Ignoranz ist etwas, das ebenso vorherrschend in unserer Welt ist, wie der Neid letztendlich, mit ebenso gravierenden Konsequenzen für die Menschen. Egal, ob als Individuum gesehen oder im Großen. Nicht zu erkennen, was ein anderer braucht, ist die eine Sache. Es aber nicht wissen zu wollen, macht die Sache dann noch viel schlimmer für denjenigen, der leidet. Alle anderen sind so sehr damit beschäftigt, ihre Augen zu verschließen, dass sie es nicht wahrnehmen können, eben weil sie es auch nicht wollen! Ganz feste die Lider zudrücken und alle anderen Sinne abschalten, lautet die allgemeine Devise. Denn eben nicht mit dem Herzen zu sehen, bedeutet massive Beschneidungen der Seele, der eigenen(!) und weicht gravierend von dem ab, was doch eigentlich das Ziel sein sollte, nämlich menschenwürdig miteinander umzugehen!

 

 

 So gesehen hat die Aufstellung dieser Charaktereigenschaften, die als „Todsünde“ gelten, doch wunderbar funktioniert. Na klar, sowas von! Sie funktionieren eben nicht, wenn man es genauer betrachtet. Die Menschen haben sich diese Attribute nicht abgewöhnt, sondern leben sie tagtäglich aufs Neue unbeirrbar aus. Sollte einem doch zu denken geben, wenn man an der Stelle der Mächtigen steht, ihre Position inne hat, oder nicht? Spätestens jetzt muss auch jedem noch so sehr von seiner These überzeugtem Mensch klar werden, dass es sowas von überflüssig ist, den Leuten derartige Regeln vor die Nase zu setzen. Alles was einen massiv in seiner persönlichen Entwicklung einschränkt, war ohnehin nichts für Lotta, sondern gehörte wohl zu den Dingen, die sie verurteilte, wegen ihrer offensichtlichen Sinnlosigkeit!

 Und wenn man jetzt einen Schritt weiter geht, das Erkennen der offensichtlichen Missachtung der Regeln ins Denken miteinbezieht, dann kommen als Folge, diese Missachtung irgendwie und mit aller Macht doch noch eindämmen zu wollen, Irrwüchse des Verstandes dabei heraus, die höchstdramatische Konsequenzen für einzelne Leute hatten. Nämlich den Tod! Das aber war in Lottas Augen mit Sicherheit eine Sünde, eine wirkliche „Todsünde“. Menschen aufgrund ihres Wissens oder ihrer Lebenseinstellung rechtmäßig(!) ermorden zu können, war absolut verwerflich! Und daran hielt sie auch fest - unbeirrbar!

 Man denke an dieser Stelle nur an die Hexenverbrennungen, das Malleus Maleficarum beispielsweise, der Hexenhammer. Was für ein Werk! Von welch haarsträubenden Vorurteilen gespickt, die zu grausamsten Taten geführt hatten. Welche eine Rechtfertigung vor Gott wohlgemerkt zu haben scheinen, dass man Menschen folterte und verbrannte. Schlussendlich auf einem gewaltigen Irrsinn basierend, hervorgebracht von einem Mönch, der fest an das geglaubt hat, was er da bis ins kleineste detailliert beschrieben hat. Was vor allem eine Anklage der weiblichen Sexualität darstellt. Man mag sich an dieser Stelle ja fragen, zumindest Lotta tat das, was in einem solchen Geist wohl vor sich gehen mag, dass man sich eben damit so sehr auseinandersetzt. Es als etwas aburteilt, das eines Lebens unwürdig ist. Ein ebensolcher Mönch würde wohl heute völlig außer sich geraten, wenn er in Hamburg auf der Reeperbahn zu Gast sein müsste…

 Haben die Menschen denn früher tatsächlich alles, was mit Sexualität zu tun hat, so sehr abgeurteilt? Taten sie es von sich aus oder geschah das, weil sie von einer Gruppierung dazu gezwungen wurden, die über allem stand? Die sich erhob über andere, jene, welche niederen Ranges waren und geführt werden mussten. Die gespickt zu werden hatten, mit moralischen Normen. Von der Kirche? Muss ja wohl! Und dennoch kam es wieder und wieder zur Sprache, wohin auch immer man blickt, wurde es bewertet oder als etwas Verwerfliches bis sogar überaus Böses dargestellt, mit furchtbarsten Konsequenzen!

 

 

 

 

 

Die Nephilim

 

 Lotta dachte in diesem Moment an die sogenannten Nephilim, die ja Mischwesen aus göttlichen Wesen und Menschenfrauen gewesen sein sollen. So steht es zumindest in den Apokryphen festgehalten. Jenem Werk, das zur damaligen Zeit weithin unbekannt war. Oder auch allgemeinhin nicht anerkannt wurde, im 2. Jahrhundert aber von christlichen Theologen geprägt worden ist. Schwierig daran mag erscheinen, dass es anfangs als „außerkanonisch“ gegolten hat, beinahe schon häretisch. Also nicht würdig genug gewesen ist, um in die Bibel aufgenommen zu werden und auch in Teilen sogar als Ablehnung der Religion betrachtet worden ist. Was man ja auch den Gnostikern zugesprochen hat. Womit unterschiedliche Gruppierungen oder religiöse Gemeinschaften des 2. und 3. Jahrhunderts gemeint sind. Die, die sich und ihre Lehren von den anderen distanziert sahen. Fast schon wie ein Geheimbund fungierten, weil sie sich, nach ihrem eigenen Verständnis, der eigenen Wahrnehmung ihrer Lehren, von den anderen abhoben. Dieses Wissen demnach „nur“ an bestimmte Gelehrte oder möglicherweise Eingeweihte weitergegeben worden ist, weil es auch zu gefährlich war, ihre Sichtweise offen zu äußern.

 In diesen Schriften also, die nicht „gut“ genug für die Bibel waren, stehen die Nephilim als riesenhafte Gestalten drin. Weil sich nämlich die Engelschar, die Grigori, die von Gott den Auftrag bekommen hatten, sich um die Menschen zu kümmern und den Erzengeln bei der Erschaffung des Garten Eden helfen sollten, sich blöderweise zu den weiblichen Menschen hingezogen fühlten, ihnen dummes Zeug beibrachten. Geheimnisse des Himmels ausplauderten und sich eben in die Frauen so sehr verliebten, dass sie ihnen zu nahe kamen. Sogar so nahe, dass sie gemeinsam Kinder zeugten, welche vom Charakter her als ausgesprochen „böse“ beschrieben wurden. Also eine Warnung! Man solle, wenn schon, dann auf jeden Fall unter sich bleiben und das - bitte schön – gesittet! Die Strafe für die Grigori folgte ja schließlich auch auf dem Fuße. Sie wurden getroffen vom Zorn Gottes, der so erzürnt war, dass er sie des Himmels verwies und in Dämonen verwandelte – ihnen ihre Unsterblichkeit genommen haben soll!

 Wobei Lotta immer geglaubt hatte, dass der „Garten Eden“ sowas wie das Paradies sein sollte und es schloss sich in ihrer Gedankenwelt aus, dass das Paradies ausgerechnet auf Erden, in Form eines Gartens dann noch, direkt neben den Menschen hätte erschaffen werden sollen. Irgendwie komisch oder nicht? Wozu braucht es so etwas in der irdischen Welt, wenn es doch eigentlich ein Teil des Himmels darstellt? Bedenkt man dann noch, dass alles, was im Himmel Mist baut, zu uns runter kommt, angeblich, macht es doch gar keinen Sinn, etwas so weit über uns Stehendes bei uns etablieren zu wollen, quasi.

 Naja gut, andererseits waren ja auch Adam und Eva als erstes im Garten Eden, wird zumindest so behauptet. Und die beiden haben uns anderen alles versaut. Aber das ist eine andere Geschichte. Wenn auch faszinierend irgendwie, wie die Fantasie der Schreiber damals funktioniert hat. Ein Garten muss als etwas überaus Schönes gegolten haben, dass er mit so etwas Überirdischem wie dem Paradies gleichzusetzen war. Und dann ist es natürlich auch die Frau gewesen. Eva, die sich, wie könnte es auch anders sein, verführen lässt, zur bösen Tat. Jene Frau, die aus der Rippe des Mannes erschaffen worden ist. Womit ja klar ist, dass sie das nicht wert war. Die ist also Schuld daran, dass wir hier auf Erden das Paradies nicht haben! So war es! Also haben wir hier „nur“ irdisches Dasein. Alles andere wäre ja auch ein bisschen weit hergeholt, oder nicht?

 Wobei Lotta, auch das war vollkommen klar, dieses wieder einmal ganz anders sah. „Paradies“ ist ein so großes Wort. Als etwas Perfektes anzusehen - Utopia. Also völlig entrückt. Die Welt kann nicht perfekt sein und es wird immer davon abhängen, wie wir uns in ihr zurecht finden. Denn es schien ihr absolut im Rahmen des Möglichen zu liegen, dass es Menschen gab, die ihr irdisches Dasein als glücklich und paradiesisch empfinden würden. Es liegt alles im Auge des Betrachters, vom Herzen her und sonst nix!

 Aber zurück zu denen, die da oben nichts taugen und dann halt zu uns runter kommen. Als wenn wir nicht schon genug Übel hier hätten oder haben wir das Übel vielleicht eben jenen zu verdanken, die zu uns gekommen sind? Und aufgrund ihrer plötzlichen Menschlichkeit auch deshalb „menschlich“ fühlten? Also eventuell Unzufriedenheit, derbe Enttäuschung, darauf folgende Verletztheit, Rachsucht vielleicht, dann Uneinsichtigkeit, immense Sturheit, Neid sowieso, als auch Zorn (da waren sie wieder die Todsünden!) zu uns brachten? Eine Frage, die nicht so ohne weiteres zu beantworten ist. Wobei Lotta glaubte, dass die Menschen das auch alleine schafften, alle diese Regungen des Gefühlslebens sowohl vor Tausenden von Jahren als auch bis hin zur heutigen Zeit gefühlt haben werden. Es war halt menschliche Veranlagung. In uns verankert, dass wir fühlen können. Das Entscheidende war, wie gehen wir damit um?!

 Im Grunde ein wahnsinnig toller Stoff für einen richtigen Fantasie-Thriller oder so was in der Art. Gibt es ja auch etliche, entstanden allerdings in der heutigen Zeit. Inwieweit es Gottes Zorn als solchen gegeben hatte, mit derartigen Konsequenzen, und woher überhaupt die Menschen wussten, dass es sowas wie eine sexuelle Beziehung zwischen himmlischen Geschöpfen und den Menschen geben könnte, erschloss sich Lotta nicht. Wie kommt man überhaupt auf so eine Idee? Deren Auswüchse Riesen sind, die alles mal eben so fressen und vernichten. Sie müssen ja rein biologisch normal geboren worden sein und sind dann im Laufe ihrer Kindheit ganz schnell zu riesenhaften Wesen herangewachsen, oder wie jetzt? Diese Kreaturen, die sowohl Mensch als auch Tier angreifen, gnadenlos zerstörerisch sind, diese Nephilim. Erwiesen ist ihre Existenz wohl kaum, weder heute noch damals.

 Wobei es damals vermutlich niemand hinterfragt hätte, sondern ob dieser obskuren Geschichte sofort angefangen hätte, innerlich zu schlottern, vor lauter Angst. Heute schockiert einen ja nichts mehr so schnell. Allerdings kann man auch das nicht wirklich wissen. Nur weil es jemand niedergeschrieben hat, ist das noch lange nicht der Beweis dafür, dass auch alle anderen unbeirrbar daran glaubten. Aber vermutlich werden sie aufgrund des Nachteils, eben nicht die Möglichkeit gehabt zu haben, sich anderweitig Informationen zu beschaffen, wenigstens hingenommen haben, was man ihnen vorsetzt. Und wahrscheinlich ist auch, dass sie, wenn sie denn Zweifel gehabt haben werden, diese eher stillschweigend mit sich trugen, als dass sie es gewagt hätten, den Obrigkeiten offen zu widersprechen! Heute zumindest würde es einem niemand ernsthaft abkaufen, dass demnächst mal so ein wütender Riese vorbei schaut und alles verschlingt, was ihm in die Finger kommt, weil eine Frau sich mit einem göttlichen Wesen eingelassen hat, schwanger geworden ist und nun ihr Kind nicht im Griff hat, oder so ähnlich!

 Dennoch erfordert es eine außerordentliche Gabe, so etwas auf solche Weise so bildhaft auferstehen zu lassen, so dass es auch noch glaubhaft erscheint und in die Geschichte eingeht. Oder ist es doch alles Eingebung? Worte, die aufgrund einer höheren Macht durch die Finger eines Menschen fließen, der sie niederschreibt, um für andere ein Leitfaden zu sein? Eine ernsthafte Warnung?

 Einerseits fand Lotta solche gedanklichen Reisen ja überaus spannend und andererseits erschreckte es sie, wie man auf solche Vorstellungen kommen konnte, diese dann auch noch niederschrieb, so dass deren geistiges Gut noch etliche hundert Jahre später, mehr als Tausend Jahre sogar, als Zeichen dessen galten, was man einst fest geglaubt hatte. An dessen Existenz man nicht zweifelte. Auch heute gibt es zahlreiche Geschichten, die sich aus den Tiefen der Fantasie vereinzelter, höchst begabter Menschen entwickelten und deshalb wahnsinnig erfolgreich sind. Aber würde man aufgrund dessen in Tausend Jahren darauf schließen, dass wir das alles bitter ernst genommen haben? Zauberschulen, die durch ein unsichtbares Bahngleis erreicht werden können zum Beispiel? Wohl kaum!

 

 

 

 

Menschlich? Himmlisch? Oder warum Engel stürzen…

 

 Ähnlich mag es sich mit den Geschichten aus den Apokryphen verhalten. Mit allen möglichen Schriftrollen aus vergangenen Zeiten, die eben das schöpferische Denken eines einzelnen widerspiegeln. Und nur weil vielleicht zwei oder drei, oder auch vier hochgeistig in Erscheinung getretene Individuen ähnliche Geschehnisse schriftlich verfasst haben, muss das doch noch lange kein Beweis für die Existenz dessen sein, was zudem noch eine allgemeine Gültigkeit und als unantastbar zu gelten hat! Nö!

 Es ist dem Menschen ein unbedingtes Bedürfnis gewesen, nicht alles so hinzunehmen, sondern in Frage zu stellen und sich auszumalen, was denn wohl wäre, wenn dieses oder jenes passieren würde. Auf einer Legende beruhend, plötzlich Dinge oder Ideen zu einer These werden. Ihren eigenen Lauf nehmen. So mag es früher gewesen sein, so ist es heute aber ganz bestimmt, in manchen Fällen. Öfters, als man ahnt werden Theorien entwickelt, Verschwörungstheorien und diese bleiben haften, irgendwie zumindest!

 Allein die gedankliche Reise auf sich zu nehmen und sich den Engeln, den himmlischen Geschöpfen, zu widmen und ihnen etwas Negatives anzulasten, ist in sich ja schon ein Hinterfragen dessen, was man den Menschen doch als unantastbar vorgesetzt hat. An das sie uneingeschränkt zu glauben hatten. Den überirdischen Mächten sollte man doch eigentlich nichts nachsagen können. Die Vorstellung vom über uns thronenden Gott, der unfehlbar ist, wird auf diese Weise auseinander genommen. Einem perfekten Wesen wird wohl kaum ein solcher Fehler unterlaufen sein, nur mal so. Aber schließlich musste es auch etwas geben, das Engel stürzen lassen könnte. Warum auch immer es nicht die Möglichkeit gab, etwas Überirdisches auch eben göttlich sein zu lassen. Dem eigentlich Perfekten etwas Scheiterndes andichten zu müssen, unbedingt, konnte Lotta nicht verstehen! Ist es denn wirklich so undenkbar, dass jene kosmischen Geschöpfe eben auch „himmlisch“ waren, also nicht menschlichen Charaktereigenschaften erliegen würden? Wenn Lotta das richtig überdachte, waren eben jene Gründe, für den Sturz eines Engels, die, dass er so reagierte, so dachte und so fühlte, wie es einem Menschen zuzutrauen wäre. Also stellt sich ja die Frage, inwieweit ein himmlisches Wesen denn tatsächlich auch „himmlisch“ war?

 Wenn nämlich das Streben nach Gottgleichheit oder auch der altbekannte „Stolz“ Gründe waren, um es sich mit Gottes Gunst zu verscherzen, dann waren das doch durchaus Eigenschaften, die so manchen Menschen charakterisierten. Ein weiterer Grund soll ja auch die Willensfreiheit gewesen sein.

 Woher weiß man sowas eigentlich? Wie kommt man auf diese Idee? Kann ja nur sein, dass man „GOTT“ als solchen sehr gut kennt, irgendwie zumindest. Ist das nicht auf eine Art auch anmaßend? Gott als jemanden anzusehen, dem wirklich und tatsächlich Fehler unterlaufen? Und man diese als Mensch zudem noch in klare Worte fassen kann? Wobei der eigene Wille ja auch für die Menschen nicht gut ist. Deswegen lieber gehorchen! Engel fallen schließlich auch, wenn sie selbst entscheiden! Geht gar nicht, richtig? Was für ein Blödsinn, aber nun gut. So berichtet man davon und dann stimmt das auch. Ja genau!

 Der Wille also, den Gott den Engeln eingeräumt hat, war schuld. Wobei der eine oder andere von ihnen damit nicht umgehen konnte, angeblich, und sich gegen Gott gestellt, bzw. sich auf seine eigene, geistige Reise begeben haben soll (könnte auch so manchem Mensch von Nachteil sein, nur mal so!). Eine Reise, die nicht mehr im Sinne des Herrn war. Die Konsequenz daraus, wie es niedergeschrieben steht, war dann die, dass Gott einige von ihnen schlicht und ergreifend zu Menschen gemacht hat. Sie degradiert hat. Wie passend aber auch, wenn ich menschlich empfinde und mich so verhalte, dann auch zum Menschen zu werden. Naja gut, schlimmer geht es allerdings auch, nämlich dann, wenn man zum Dämonen umprogrammiert wurde. Was ja noch viel ärger ist, genau genommen. Weil aus dem Himmel vertrieben zu werden, ist an sich ja schon gruselig, aber dann auch nach als Dämon enden zu müssen, ist etwas wirklich Furchtbares! Nach Origenes, einem christlichen Kirchenvater, der im Ende des 2. bis Anfang des 3. Jahrhunderts gelebt hat, soll ihnen aber durch erworbene Tugend als Mensch und ein Leben, das gottgefällig ist, die Chance gegeben worden sein, wieder an ihren alten Platz zurückzukehren. Das ist ja mal was. Spricht ja für die Güte des Herrn. Also nicht in jedem Fall ist er so streng, dass er einem entgleisten Wesen nach entsprechender Läuterung eine Rückkehr in den Himmel grundsätzlich verweigern würde. Es sei denn, man hat als göttliches Wesen Sex mit menschlichen Frauen, dann ist alles vorbei – ausgespielt!

 Interessanterweise soll ja auch so etwas wie eine Weigerung, den Menschen Respekt zu zollen, ein Grund für die Verweisung aus dem Himmel gewesen sein, zum Sturz von Engeln geführt haben. Also all die Engel, die nicht einsahen, dass sie den Menschen dienlich sein sollten, wo sie doch selbst aus höherer Materie bestanden als eben der Mensch. Was für eine Vorstellung! Lotta fand das schon ziemlich heftig. Sich über solche Sachen Gedanken zu machen, war das eine, es aber dann auch noch schriftlich zu fixieren und damit der Nachwelt als etwas zu hinterlassen, das tatsächlich so war, und von dieser zudem nicht mal hinterfragt wurde, schon nicht ohne. Dass ein Geschöpf, dessen Aufgabe es war den Menschen zur Seite zu stehen, sich zu erhaben gefühlt haben könnte, um dem nachzukommen, ist eine mutige Aussage. Genau genommen gilt hier gleiches, wie zuvor schon bei der Willensfrage. Wie kommt ein Mensch dazu, einen Engel für so überheblich darzustellen, weil er dem niederen Wesen „Mensch“ nicht dienen will?

 Arroganz gibt es also auch schon was länger und ist sogar eine Eigenschaft, die im Himmel vorkommt. Solange, bis man ertappt wird. Das würde sich Lotta für so manchen Menschen wünschen, dass die Überheblichkeit so schnell, sang und klanglos, ausradiert werden könnte. Aber wir sind ja auch auf der Erde. Da gelten eben andere Regeln, verständlicherweise.

 Obwohl ich als Mensch auch ein kleines bisschen Arroganz an den Tag lege, mit einer solchen Darstellung eines Engels, der bestraft wird, weil er mir nicht zur Seite stehen will. Wer sieht sich denn in dieser These als wirklich übergeordnet stehend an? Tja - ganz und gar nicht so einfach zu beantworten!

 

 

 

 

Die gefallenen Engel und Erzengel Michael

 

 Faszinierend eigentlich, dass die Vorstellung von den „gefallenen Engeln“ sowohl im Neuen Testament, teilweise sogar in christlichen Interpretationen des Alten Testamentes als auch in den bereits erwähnten apokryphen Schriften weit verbreitet ist. Davon waren also irgendwie alle wichtigen Schreiber überzeugt. Sie werden sogar namentlich benannt, die Gefallenen. Zum Beispiel als „Samael“, der einen richtig schlechten Ruf genießt. Natürlich auch als „Satan“, der Teufel an sich und auch Luzifer wurde gestürzt.

 Samael ist, man mag es kaum glauben, ein gestürzter Erzengel. Zumindest galt er in der christlichen und jüdischen Mythologie als „Erzengel“ und selbst in der Gnosis wurde er als solcher angesehen. Allerdings soll er sich gegen Gott aufgelehnt und sich infolgedessen zum Anführer aller rebellierenden Engel gemacht haben. Weiterhin gilt er als Gegenspieler des Erzengels Michael, der wiederum als Bezwinger Satans dargestellt wird, den er auf die Erde hinabgestürzt hat.

 Ist doch eigentlich nicht nett, dass sowas alles zu uns auf die Erde runter stürzt! Und wir müssen uns dann mit denen rumschlagen, oder wie? - Naja, zumindest stehen uns die anderen Engel immerhin bei, was sicherlich auch erforderlich ist, bei soviel Bösem, das nun mal existiert. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, das Böse lebt und existiert mitten unter uns, ohne dass wir zusätzlich noch eine Hölle bräuchten, eigentlich…

 Jedenfalls ist der Erzengel Michael auch im Christentum der Bezwinger des Teufels. Allerdings in der Gestalt eines Drachen. Im Judentum heißt es sogar, dass die letzen Worte, die Satan vor seinem Sturz gehört hat, „Wer (ist) wie Gott“ gewesen sein sollen, eine wörtliche Übersetzung des hebräischen „Mi-ka-el“.

 Im Christentum sollen ihm sogar, im Gegensatz zum Judentum, göttliche Attribute zuteil werden. Nach den Apokryphen ist er der Schutzpatron Israels und gilt als Anführer der himmlischen Heerscharen. Irritierend dabei ist aber wieder, dass sich die Kirchenväter absolut uneins darüber waren, welchen Rang Erzengel Michael nun eigentlich einnimmt in der Hierarchie der Engel. Während die einen glaubten, dass er eine der höchsten Positionen überhaupt inne hat, sahen ihn andere wiederum ganz weit unten. Ist es nicht sonderbar, dass so viel Disharmonie darüber herrscht? Was wiederum den Rückschluss zulässt, wie wenig diese Thesen, egal welche, überhaupt belegbar, sondern wieder einmal von Menschen und ihren jeweiligen Interpretationen abhängig sind!

 

 

 

 

Luzifer

 

 Glücklich getroffen hat es auch ein anderer nicht, wobei das stark untertrieben ist. Für ihn ging die Sache richtig übel aus: Luzifer, der Lichtbringer, Lichtträger. Dessen Name ursprünglich in der römischen Mythologie als poetischer Name des Morgensterns verwendet wurde, also des Planeten Venus und auch in Verbindung mit der Göttin Venus gesehen worden ist. Selbst im Christentum war er lange nicht „schlecht“ oder gar „böse“. Er steht an zahlreichen Stellen der Vulgata als „Morgenstern“ drin. Die Vulgata ist dieser lateinische Bibeltext, der die älteren Lateinischen Bibelübersetzungen abgelöst hat - die, welche bis zur Spätantike gebräuchlich, in ihrer Qualität (was auch immer das heißen soll?!) jedoch verschieden waren. Jedenfalls gibt es dort einige Stellen, in denen Luzifer ohne jeden Bezug zum Teufel vermerkt worden ist. Bis denn dann Origenes, der christliche Gelehrte und Theologe aus dem 3. Jahrhundert sich das anders überlegt hat. Er war vermutlich der erste, der aus Luzifer „Satan“ gemacht hat. Da gab es nämlich mal so eine Geschichte über den „König von Babel“, der wohl Ambitionen gehabt haben soll, in den Himmel aufzusteigen. Der am liebsten seinen Thron direkt neben Gott aufstellen lassen wollte. Stattdessen jedoch wurde er in die Unterwelt verbannt, so wie es in Jesaja 14 geschrieben steht: „hin geworfen ohne Begräbnis wie ein verachteter Bastard“ - harte Worte, wirklich harte Worte. Weil dieser König von Babel aber sinnbildlich mit dem „schönen Morgenstern“ verglichen worden ist, der eben vom Himmel „gefallen“ ist, hat er, also Origenes, angenommen, dass damit „Luzifer“ gemeint gewesen sein muss. Er war der erste, scheinbar, der schriftlich verfasst hat, dass der Morgenstern Eosphoros-Luzifer mit dem Teufel/Satan in Verbindung stehen muss. Bei den jüdischen Gelehrten, denen, die sich an die griechischen Bibelübersetzungen gehalten haben und eben nicht das lateinische zu Rate zogen, sah das anders aus. Dort lautet die hebräische Bezeichnung für den Morgenstern „Helel“ und wurde von ihnen mit „Phosphoros“ wiedergegeben. Origenes hat hingegen behauptet, dass der ursprünglich mit Phaeton verwechselte Helal-Eosphoros-Luzifer (Mischmasch beider Übersetzungen) als himmlischer Geist von eben selbigen gestürzt sei, weil er versucht hat, sich Gott gleichzustellen, mit Begründung sogar(!). Nicht nur dass er gefallen ist, sondern gleich noch mit dargelegt, weshalb.

 Während sich die einen Kirchenväter ihm anschlossen, gab es dennoch welche, die das anders sahen. Also wieder einmal nicht einig! Diese interpretierten in die Prophezeiung aus Jesaja lediglich das Ende jenes babylonischen Königs hinein. Zweifelsohne ein leicht mystisch angehauchtes Ende. Sie sahen in diesem Sturz lediglich einen Hinweis auf den Sturz Satans, nichts weiter. Weil es eben der irdische Sturz eines heidnischen Königs war, mehr aber nicht. Jedenfalls nicht in Verbindung zu Luzifer stand.

 Erst im Mittelalter wurde dann aus „Luzifer“ ein Synonym für den Teufel, bzw. Satan, als nämlich das, was in Jesaja (14,12) steht mit Lukas (10,18) in Verbindung gebracht worden ist. Seither erst ist Luzifer mit Satan gleichgestellt. Klar scheint aber zu sein, dass Satan an sich gestürzt ist. Also von woanders herkam, vom Himmel. Anders geht es ja nicht. Er hat nicht von Anfang an ein Gegengewicht gebildet. Erst durch Fehlverhalten wurde er zu dem, was er war, böse!

 Lotta glaubte auch das nicht, nicht wirklich. Ihrem logischen Denken nach, war klar, dass es stets wenn es das eine gab, auch zwangsläufig das andere geben musste. War es nicht grundsätzlich so? Von was auch immer, gab es auch meistens das Gegenteil, richtig? Warm – kalt, hell – dunkel, hoch – tief, außer „durstig“, das gibt es nicht als gegenteiliges Wort. Egal, zählen tat eh nur eines: gut – böse!

 

 

 

 

 

Wer überhaupt ist „Phaeton“?

 

 Lotta fragte sich desweiteren, wie sowas überhaupt zustande kommen konnte, dass man vehement sich in alten Schriften vergrub, diese vielfältig übersetzt, wobei ja auch schon Fehler passieren können, Dinge anders gedeutet wurden als es womöglich ursprünglich gemeint gewesen ist und dann daraus eine Tatsache erwächst. Und außerdem, wer überhaupt ist mit „Phaeton“ gemeint?

 Oha, eine Gestalt und deren Geschichte aus der griechischen Mythologie, deren bekannteste Version ein römischer Dichter namens Publius Ovidius Naso, kurz Ovid (43v. Chr. – ca. 17 n. Chr.) niedergeschrieben hat. Aber eine durchaus spannende Geschichte. Irgendwie hatten die es damals wirklich drauf, außerordentliche Geschichten zu erzählen, kann man nicht anders sagen, das war nämlich so, mit Phaeton:

 Er war ein Mann mit göttlicher Abstammung, Sohn des Helios, dem Sonnengott. Und dann eines Tages kam jemand daher, ein gewisser Epaphos (Sohn von Io und Jupiter, auch wer „Großes“) und hat einfach mal behauptet, dass Phaeton ein Aufschneider ist und gar keine göttlichen Wurzeln habe, was diesen ziemlich bestürzt hat. Er, auf den Rat seiner Mutter hin, zum Sonnentempel ging, um von seinem Vater eine Bestätigung seiner Abstammung einzufordern. Vaterschaftstest mit Nachweis quasi. Dieser Helios nun aber war nicht jemand, der seine Vaterschaft geleugnet hätte – im Gegenteil, er nahm seinen Sohn, also Phaeton, im Palast auf und schwor einen Eid, in dem er sich verpflichtet hat, seinem Sohn ein Geschenk seiner Wahl zu machen.

 Das ist doch mal jemand mit Rückgrat gewesen. Jemand, der ohne Zweifel dazu stand und nicht der Frau erst nochmal zig Affären unterschieben musste, bevor er denn bereit ist, sein Kind anzuerkennen! Könnte sich manch ein Mann aus der heutigen Zeit mal eine Scheibe von abschneiden, nur mal so!

 Egal, weiter in der Geschichte des Phaeton, der nämlich die Idee hatte, dass er mal für einen Tag den Sonnenwagen lenken möchte. Der Sonnenwagen, der den Lauf der Sonne am Himmel nachfährt. Helios allerdings war von diesem Vorschlag alles andere als angetan und versuchte, seinen Sohn umzustimmen. Dummerweise gelang ihm das nicht, denn Phaeton nahm, als es an der Zeit war und der neue Tag anbrechen sollte, das Vierergespann ohne Wissen seines Vaters. Jenes reich verzierte und goldbestückte kostbare Gefährt und raste los, verlor natürlich relativ schnell die Kontrolle, wegen keine Ahnung und erst Recht keine Erfahrung, und noch viel weniger die eigentliche Bedeutsamkeit dieser Fahrt erfassend. So dass er ruck zuck die Strecke zwischen Himmel und Erde verlassen hat, was eine riesige Katastrophe auslöste für die Welt. So war es schließlich Mutter Erde, die Zeus, also den höchsten Gott des Olymps der griechischen Mythologie, um Hilfe bitten musste. Dieser nun, ohne lange zu fackeln, schleudert einen Blitz auf Phaeton, zerstörte den Wagen und das war es dann. Phaeton stürzte tot in einen Fluss, den Eridanus, was damals ein großer Fluss am Ende der Welt war, Schluss Aus Ende!

 Seine Schwestern aber weinten um ihren Bruder und wurden am Ufer des Eridanus zu Pappeln verwandelt. Ihre Tränen wurden zum berühmten Bernstein. Aber dann kam noch jemand, der um Phaeton bitterlich geweint hat. Man mag es kaum glauben, aber es war ein ligurischer König namens Cycnus, der vollkommen aufgelöst am Ufer weinte, weil er der Geliebte (!) von Phaeton gewesen ist. Untröstlich, wie er war, hat er mit seinem Herzschmerz den Gott Apoll (den Gott des Lichts) so sehr gerührt, dass dieser ihn in einen Schwan verwandelt hat. Nach Ovid soll auf dem Grabstein stehen: „Hier ruht Phaeton, der Lenker des väterlichen Wagens. Zwar konnte er ihn nicht steuern, doch starb er als einer, der Großes gewagt hat.“ … ist das nicht theatralisch?

 Lotta fand es ja sowas von klasse, dass in der längst vergangenen Zeit, mehr als zweitausend Jahre zurück, die unendliche Trauer eines Mannes über den Verlust seines Geliebten sogar einen Gott hat rühren können. Wo stehen eigentlich die Homosexuellen heute? – Ähm ja, sie werden als Sünder betrachtet. Nicht zu fassen, ganz ehrlich! Wir fühlen uns doch immer so fortschrittlich und den Menschen von damals so weit überlegen und sind doch nicht ernsthaft gereift, anscheinend. Wenn die alten Götter eine gleichgeschlechtliche Liebe respektieren konnten, dann ist „unser“ Gott dazu nicht in der Lage? - Mal ganz abgesehen davon, dass, wenn es Ovid damals so geschrieben hat, es offensichtlich auch in der damaligen Gesellschaft als nichts Verwerfliches angesehen worden sein kann!

 Und es war zu der Zeit von Ovid vollkommen in Ordnung, offensichtlich, dass sogar selbst Götter Kinder mit Menschen hatten. Aus einer solchen Verbindung sind daher also nicht zwangsläufig grausame Kreaturen entstanden, die die Welt zerstörten! Wenn man jetzt ganz krass drauf ist, und sich darüber mal Gedanken macht, dass ja auch Jesus Christus vom heiligen Geist gezeugt worden sein soll, also bei näherem Hinsehen ein Mischwesen hätte sein müssen, er aufgrund der unbefleckten Empfängnis als Sohn Gottes galt, von einer menschlichen Frau zur Welt gebracht - er aber in diesem Fall jedoch alles andere als ein Monster war, sondern einen besonderen Stellenwert eingenommen hat, ihm eben deswegen eine außergewöhnliche Würdigung zuteil geworden ist, dann wird es interessant, fand Lotta!

 Die Liebe an sich wurde demnach völlig anders bewertet. Nicht als etwas Schlechtes, Negatives oder Zornerregendes angesehen. Im Gegensatz zu den Engeln, welche mit Frauen die Nephilim erschafft haben sollen und deshalb des Himmels verwiesen worden sind! So kann es sein. Aus unterschiedlichen Sichten ergeben sich halt total andere Wahrnehmungen.

 Wäre es gewagt zu sagen, dass eine freie Wahrnehmung der Liebe, der Sexualität Grundlage für eine tolerante Haltung darstellt? – Wer im körperlichen Akt etwas Schönes, Bereicherndes und Reines sieht, ist auch nicht fähig, diesen abzuwerten! Und legt daher auch eine wesentlich offenere Position allem anderen gegenüber an den Tag. Wäre ein Gedanke wert!

 Nachvollziehbar ist aber nun auch, weshalb Origenes auf die Idee gekommen ist, dass man Luzifer verwechselt hat und zwar mit Phaeton. Schließlich ist dieser auch mit dem Licht der Sonne in Verbindung stehend vom Himmel gestürzt, ein „Gefallener“ also. Und seine göttliche Abstammung macht ihn zu etwas Übermenschlichem.

 Warum allerdings daraus nun der Fall des Luzifers werden konnte, ist noch immer nicht so ganz logisch. Denn der hat ja eigentlich überhaupt nix Böses gemacht. Genauso wenig wie er in Persona der König von Babel war. Nur weil sein Name „Lichtträger“ bedeutet, reicht doch das nicht aus, genau genommen, um einem Wesen seinen Rang abzunehmen und noch eines drauf gesetzt, dessen Stellung mal gleich ins Böse zu verkehren.

 Naja, so ist es halt, irgendwer wühlt sich durch alte Schriftrollen, findet etwas, vergleicht es mit anderen niedergeschriebenen Meinungen und zieht seine eigenen Schlüsse daraus. Ist ja bis heute so, meistens jedenfalls. Was Lotta daran nur immer wieder aufstieß war, wenn daraus dann etwas „verbindliches“ wurde. Also etwas, das uneingeschränkte Macht besaß, als unantastbar angesehen wurde. Etwas, das Gültigkeit hat, nur weil wer mal in sich gegangen und seinen Gedanken freien Lauf gelassen hat. Zwar fest davon überzeugt war, Belege dafür zu finden, etwas, auf das man sich berufen konnte. Dennoch war es, aus Sicht des Luzifers, schon echt krass, was es für Folgen für ihn hatte. Wenn er aber mit göttlicher Kraft ausgestattet ist, also ein Wesen ist, das aufgrund seiner engelhaften Gestalt ohnehin über dem Menschen steht, dann wird es ihn auch nicht jucken. Sondern er wird sowieso jeden Tag wieder am Himmel stehen zu leuchten, als der Morgenstern, oder so ähnlich.

 Trotzdem heftig, was alles aus den Interpretationen eines einzelnen werden kann! Irgendwie zumindest, fand Lotta! Zumal sich die Herren, die sich eben damit auseinandersetzten auch nicht wirklich einig waren. Sich in unterschiedliche, gänzlich verschiedene Glaubensrichtungen entwickelten. Was die einen für so wichtig hielten, dass es in die Bibel mit aufgenommen werden musste und sollte, den Kanon, galt für andere eben als weniger bedeutsam. Weshalb sie sich auch abspalteten. Allein der Umstand, dass es vier Evangelien gibt, zeigt ja, dass eine Version nicht auszureichen schien. Wenn man dann noch zusätzlich in seine Gedanken miteinbezieht, dass diese auch nicht zur selben Zeit entstanden sind, dann bleibt ja die Frage offen, was daran eigentlich tatsächlichen Wahrheitsbestand hat? Worauf kann man sich denn nun wirklich verlassen? Aber alles das bleibt, wie es beim „Glauben“ immer so ist, in einem selbst begründet, bei welcher Version man sich am wohlsten fühlt - es heißt eben „Glauben“, weil es nicht belegbar ist!

 

 

 

 

 

 

 

 

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© Jasmina Marks