Ihr Lieben,

 

 

 Ich möchte mich an dieser Stelle an jene Seelen richten, die in ihrer Vergangenheit, womöglich im Kindesalter sexuellem Missbrauch ausgesetzt waren und die noch immer ihren Weg nicht finden können. Also diejenigen, die nach wie vor darunter leiden!

 

 Auch wenn es für mich nun schon gefühlt etliche Jahre zurückliegt, dass ich mich selbst an dem Punkt befunden habe, wo ich die Entscheidung traf, endlich aufzustehen (aus der Opferrolle herauszutreten hin zur Betroffenen), so ist das insgesamt nicht wirklich eine Ewigkeit her. Genau genommen war das erst vor gut 13 Jahren der Fall und ich habe fast 6 Jahre gebraucht, um es hinter mir lassen zu können … bin also erst genauso lange (grob betrachtet) als „freies Individuum“ unterwegs wie ich für die Verarbeitung insgesamt gebraucht habe – keine Ewigkeit also! Und doch fühlt es sich an wie ein Ruf aus weiter Ferne!

 

 Dass dieser Weg äußerst anstrengend war, sämtliche Kräfte raubend als auch demotivierend und leider oftmals als sinnlos zu gehen erschien, habe ich nicht vergessen. Dennoch bin ich froh, immer weitergelaufen zu sein, egal – was sich da an vermeintlich unüberwindbaren Hürden vor mir aufgetürmt hat! Und selbiges möchte ich an Euch weitergeben, denn es lohnt sich … es lohnt sich ohne Einschränkung, vergangene Traumata hinter sich zu lassen! Diese in der Geschichte des eigenen Lebens ruhend zu wissen, ohne dass sie Gefahr laufen können, plötzlich hervorzubrechen und alles infrage zu stellen, was man sich mühsam erarbeitet hat, ist ein Lebendigkeit spendendes Merkmal für eine gelungene Verarbeitung!

 

 Bewusst habe ich anfangs von einer Entscheidung gesprochen, die ich getroffen habe! Denn für mich war das der ausschlaggebende Punkt, um eine nachhaltige als auch dauerhafte Veränderung erwirken zu können. Nicht mehr diejenige zu sein, die durch Alpträume oder Flashbacks als auch durch das berühmte „posttraumatische Belastungssyndrom“ durch ihren Alltag schaukelt und nur selbigen zu überleben versucht  … mit dem Wissen, dabei nicht das Zepter in der Hand zu haben!

 

 Welchen Schaden sexueller Missbrauch anrichtet, wissen Betroffene nur allzu gut selbst, darum werde ich an dieser Stelle auch nicht explizit darauf eingehen. Aber ich möchte Euch sagen, die Grundeinstellung als auch die Voraussetzung in ein erheblich viel leichteres Leben zu gehen findet Ihr nur und ausschließlich in Euch selbst! Diese Entscheidung kann Euch niemand abnehmen und leider auch den langen Weg, den diese nach sich zieht, ebenfalls nicht. Sich nun dem Gedanken der Schuldfrage hinzugeben ist überflüssig insofern, als dass es halt geschehen ist und Ihr seid nun mal in der üblen Lage, das Beste daraus machen zu müssen! Logischerweise ist der Täter oder die Täterin schuld und doch seid Ihr dem ausgeliefert, was die Tat (oder die Taten, unter Umständen sogar über Jahre) an Spuren hinterlassen hat. Ich möchte damit sagen, dass es keine stabile Ausrede bietet, das eigene Aufstehen nicht anzugehen, weil der Täter doch die Schuld hat! Na klar ist der verantwortlich, aber für Euer weiteres Leben und wie Ihr es gestaltet liegt die Verantwortung ganz allein bei Euch – bei niemandem sonst!

 

 Solltet Ihr das Glück haben, dass man die Schuldigen zur Rechenschaft hat ziehen können, dann mag es leichter sein, aber nur geringfügig. Das Denken allein, dass wer auch immer dafür hinter Gittern sitzt, womöglich vorübergehend und in ein paar Jahren läuft er oder sie wieder frei rum, bewirkt keine Besserung Eures seelischen Zustandes – diesen könnt und müsst Ihr schon selbst in die Wege leiten!

 

 Solltet Ihr zu denen gehören, wo eine Verurteilung nicht möglich war, sprich das Verfahren aufgrund Mangels an Beweisen nicht einmal eröffnet worden ist (wie bei mir auch), dann hindert Euch das trotzdem nicht daran, aufzustehen – und zwar für Euch selbst!

 

 Ich erinnere mich noch allzu gut an die Zeit, wo mir eine Anerkennung des zweifelsohne grauenhaften Leides, das ich durchlebt habe, wichtig war. Warum auch immer habe ich genau das gebraucht, zumindest eine Form davon. Diese gab mir meine Psychologin (ich werde ihr immer dankbar sein!) und das war vollkommen ausreichend. Nicht die ganze Welt, die, welche mich im Stich gelassen hat, kann mir diese Würdigung zuteil werden lassen, sondern ich selbst bin diejenige, die es akzeptieren und darauf beruhend mich nach vorne blickend positionieren muss. Mitleidiges über den Kopf streichen bringt rein gar nichts und ein bedauernswertes „du hattest es ja so schwer“ leider auch nicht! Heulen, Jammern und Trauern ist kurzfristig erlaubt, sogar zwingend erforderlich es zu durchlaufen, aber es darf zu keiner Dauerschleife werden! Etwas einzugestehen, nämlich dass mein gesamtes Wesen, mein Selbstwertgefühl als auch das berühmte Urvertrauen sämtlich gestört sind, war ein Schritt meiner Verarbeitung. Selbiges mir zurück zu erobern, was auch immer das an Kraft und Anstrengung fordert, ein anderer. Schließlich durfte ich persönlich sogar die Erfahrung machen, dass der Kern meines Wesens dennoch überlebt hat. Ganz tief in meinen Inneren zwar vergraben, aber dennoch auffindbar. Solange das noch da ist, auch wenn ich selbst über Jahre, sogar Jahrzehnte hinweg felsenfest davon überzeugt war, alles das verloren zu haben, gibt es ein Morgen, das mit Freude auf mich wartet und mich liebevoll in Empfang zu nehmen vermag, auch wenn sich sonst alles andere als trüb und undurchsichtig dargestellt hat. Der Glauben an die eigenen Kräfte muss sich entwickeln dürfen, ebenso der Willen und das Berufen auf die eigene Persönlichkeit sind die Grundlagen, um eine Verarbeitung durchlaufen zu können, die eine zufriedene Zukunft nach sich zieht! Und früher oder später werdet Ihr merken, dass Euch das genauso für Euch gelingen kann wie es mir für mich gelungen ist!

 

 Oft habe ich gedacht, ob es deswegen so schwer und langwierig war, weil ich an mir entdeckt habe, dass die kindlichen Grundzüge quasi mit ins Erwachsenenalter hinüber geschwappt sind … so etwas wie der kindliche Groll und auch die Bockigkeit des Kindes, seine Uneinsichtigkeit gekennzeichnet durch das "sich verbeißen" an der Anerkennung der Qual („du weißt ja gar nicht, was ich alles durchgemacht habe“ … so was in der Art) – Rückblickend glaube ich ganz sicher, dass das Kind, das ich damals halt war, noch immer in mir verankert geblieben gewesen sein könnte … Zumindest die Verzweiflung als auch die damalige Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein in meiner kindlichen Wahrnehmung haben mir in den späteren Jahren eine klare Sicht meines Lebens versperrt. All das musste ich zunächst loswerden, hinter mir lassen. Das Kind von früher mit all seinen Nöten und Ängsten sowie den sicherlich absolut gerechtfertigten Qualen anerkennen und ihm sagen, dass jetzt JETZT ist und nicht mehr früher!

 

Im übertragenen Sinn meine ich:

Das kleine Mädchen, das ich damals war, liebevoll auf den Schoß nehmen, sie festhalten, sie beruhigend hin und her wiegen bis sie alles aus sich heraus weinen durfte, was sie zuvor jahrzehntelang unterdrückt hat ... sie sich dabei inniglich gehalten sowie geborgen fühlen darf. Wenn sie dann vertrauensvoll den Kopf hebt und mich anschaut, ihr einen Kuss auf die Stirn geben und ihr sagen „jetzt ist alles gut, ich pass auf dich auf – geh spielen“! Auch wenn sich das im ersten Moment befremdlich anhören mag, so hat es doch hervorragend funktioniert. Wann immer ich heute einen Blick auf sie werfe, sehe ich sie im Grünen bei strahlendem Sonnenschein ausgelassen und völlig frei von Schmerz herumtollen – ein Kind halt!

 

 Denn nun habe ich andere Möglichkeiten, dieses kleine Würmchen zu beschützen und auf eine Art kann und möchte ich es auch ganz bewusst so ausdrücken, dass mir ein Aufstehen deswegen so wichtig war, weil es ein Teil dessen ist, was nun klar und eindrücklich befähigt ist, jenes Kind von damals beschützen zu können – eben weil ich es verarbeitet, mich aufgerichtet und hinter mir gelassen habe!

 

 Dafür war mir auch eine Form von „Verzeihen“ eine große Hilfe, wenn nicht sogar ein ausschlaggebendes Kriterium dafür, das Ganze heutzutage ohne Einschränkung im Alltag oder sonst welche lebenslangen Folgen ruhen lassen zu können. Es ist ein Teil meines Lebens, aber ein Teil meiner Vergangenheit. Es beeinträchtigt weder mein jetziges Dasein noch steht zu befürchten, dass es in meiner Zukunft eine alles verändernde Rolle wird einnehmen können – tatsächlich alles gut!

 

 Auch wenn ich weiß, dass ich jahrelang dem Irrglauben erlegen bin, das hört niemals auf und ich gerade diese Annahme vorzuschieben versuchte, um nicht weiterlaufen zu müssen, nahm ich mir vor jeder sich auftürmenden Hürde eine kurze Pause, atmete tief durch, diskutierte (bildlich gesprochen) mit ihr aus, welchen Sinn es macht, wenn ich sie überwinde und kam schlussendlich zu dem Ergebnis: „Ja, okay, du bist zwar einschüchternd, tierisch hoch, hast glatte Wände, an denen ich mich nicht richtig festhalten kann und außerdem weiß ich gar nicht, wo ich die Kraft gerade hernehmen soll … also geh ich drum herum!“ Manchmal nahm ich auch einfach Anlauf und sprang dann drüber, weil es wider Erwarten weitaus weniger beeindruckend war, je näher ich kam … die eine oder andere habe ich auch Kopf voran schlicht umgerannt … im vollsten Vertrauen darauf, dass es funktionieren wird. Aber vor einer hocken geblieben und damit war es dann, bin ich nicht. Wichtig ist nicht, dass man stramm durchmarschiert – aber stagnieren sollte nicht von Dauer sein dürfen!

 

 Was ich Euch allen dabei unbedingt ans Herz legen möchte, ist, es keines Falls alleine versuchen zu wollen. Holt Euch Hilfe, Psychologen und Beratungsstellen lassen sich überall finden, das ist deren Aufgabe, darum gibt es diese! Lasst Euch an die Hand nehmen und lernt, dass es Menschen gibt, die Euch wirklich mit reinem Herzen ohne Hintergedanken oder Manipulationen helfen als auch begleiten wollen. Seid aber auch ehrlich zu Euch selbst, schiebt nix dauerhaft vor oder setzt Euch die rosarote Brille auf, die Euch vorgaukeln soll „alles gut“, wenn es das nicht ist. Wo Ihr Euch nicht wohlfühlt, schwenkt um – sucht wen anders, der besser passt. Aber gebt den Fachleuten eine Chance und nicht zu vergessen, gebt Euch selbst Zeit! Es spielt gar keine Rolle, wie lange man dafür braucht, wichtig ist Eure innere Stimme hören zu lernen als auch diese zu achten … auch wenn Euch das eigentliche Laufen nicht abgenommen werden kann, so lässt sich der Weg vom Opfer zur/m Betroffenen für Euch durch Kompetenz deutlich erleichtern, bietet eine Hand im Rücken und lässt Euch auch nicht im Stich!

 

 

Und – auch nicht ganz außer Acht zu lassen:

Dieses gilt auch für alle anderen, die sich in welcher Notlage oder Krisensituation auch immer befinden! Lasst Euch helfen, wenn Ihr es alleine nicht zu schaffen glaubt. Es ist keine Schande, sich helfen zu lassen und erst recht nicht, wenn man im Nachhinein dann lächelnd dastehen kann in seiner ganzen Vielfältigkeit und Einheit seines Wesenskerns! Wir haben alle unser Päckchen zu tragen, entscheidend ist, was wir daraus machen!

 

Also, steh auf – denn Du kannst es!

 

 

 

 

Jasmina

 

 

 

 

P.S.:  Wenn Du dann irgendwann dastehen und sagen kannst:

 

 

 

Hier bin ich

ich bin ich

bin gerne auch geistig in Bewegung

bin für andere mit ihrem Anderssein offen

und diese willkommen heißend

ich habe eine Geschichte

die mich geprägt hat

und doch bin ich gerade deswegen wie ich bin

ich komme daher mit einem Lächeln

sowohl im Herzen als auch in den Augen

ich trete ein für Werte und das, was mich ausmacht

ich lasse mich nicht verbiegen

oder krampfhaft in etwas hineinzwingen

 

ich bleibe mir treu und

fühle mich deshalb lebendig!

 

 

 

Dann hast Du es geschafft. Es spielt keine Rolle mehr, was andere über Dich sagen. Tratschende Gestalten gibt es immer. Es wird auch immer welche geben, die ein Haar in der Suppe suchen und auch finden, weil sie es finden wollen. Es wird im Gegenzug aber auch jene geben, die Dich genauso nehmen und von Herzen gerne haben, wie Du bist und das sind diejenigen, auf die es ankommt, die bei Dir bleiben werden – denn, seien wir ehrlich, auf jedem Weg der Entwicklung gibt es Menschen, die an Deiner Seite bleiben, weil Du bist wie Du bist und die Dich gerade deswegen wertschätzen und es gibt halt die anderen, die Dir nicht folgen können oder wollen, die, wenn Du in Not bist als erstes auf und davon sind, aber die brauchst Du auch nicht!

 

Sei Du selbst und bleib Dir treu, bleibe tolerant gegenüber Deinen Mitmenschen und stell Dich gegen jene, denen Menschlichkeit nichts bedeutet!

 

 

 

 

                                          Steh auf!

 

 

 

Juni 2019

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© Jasmina Marks