Niaviatiagia

 

 Wie ein Strich, der in die Unendlichkeit führt, lag diese asphaltierte Straße vor mir. Kerzengerade verlor sie sich ohne eine Biegung in der Ferne. Verwundert schaute ich mich um. Ich hockte mitten auf diesem dunklen Grau und starrte entlang der weißen Mittellinie von einer Seite zur anderen. Was war das nur für ein sonderbares Geschehen?

 Die Straße war wie ein scharfer Schnitt in dieser merkwürdigen Umgebung, dieser so gravierend geteilten Welt. Links von ihr war eine verdorrte Wüste. Roter Sand reichte soweit, wie man sehen konnte. Vertrocknete Sträucher, die schon seit langem keinen Tropfen Wasser mehr gesehen haben mussten, standen hier und da mit bizarr in die Luft stakenden, blätterlosen Zweigen. Vereinzelt lagen schwarze Steine um scharfkantige Felsbrocken herum, dorniges Gestrüpp wurde von einem sausenden Wind davon gefegt, deutliche Spuren im Sand hinterlassend. Eine Einöde, die schlimmer nicht sein konnte. Kein Laut außer dem unbehaglichen Brausen war zu hören und kein Lebewesen schien in diesem Teil zu existieren.

 Gegenüber davon, eigentlich völlig unmöglich, lag eine mit Blumen übersäte Wiese. Schmetterlinge flatterten von Blüte zu Blüte. Obwohl es einer Phantasie entsprungen zu sein schien, lag am Rande ein herrlicher See, der von großen Bergen malerisch umrahmt wurde, welche sich auf der glasklaren Oberfläche widerspiegelten. Die Gipfel waren mit Schnee bedeckt und hoch oben zogen Adler ihre erhabenen Runden. Hasen hoppelten spielerisch über die Wiese und alles schien in ergreifende Friedlichkeit getaucht. Der Himmel war von tiefem Blau und das gesamte Bild dieser Schöpfung idyllischen Lebens schillerte in satten Farben. Eingetaucht von hellem Sonnenlicht, das Wärme ausstrahlte, war diese Welt ergreifend schön.

 Langsam hatte ich mich erhoben und verharrte noch immer mitten auf dieser Straße. Wie ich dort hingekommen war, vermochte ich nicht zu sagen. Aber ich stand dort und wusste nicht, was ich tun sollte. Sehnsüchtigen Blickes wand ich mich dem See zu, wollte eintauchen in dieses traumhafte Etwas, das sich mir darbot. Ganz tief in meinem Innern war ich mir sicher, dass ich dort hingehörte, mit meinem Herzen und meiner Seele.

 Jener Gewissheit folgend drehte ich mich in die Richtung des Sees. Doch dann plötzlich zerrte etwas an mir. Entsetzt drehte ich meinen Kopf, aber ich konnte niemanden sehen. Dennoch zog es an mir, umklammerte mich so gewaltsam und unvermittelt, dass mir der Atem stockte. Ich war nicht in der Lage, dagegen anzukämpfen. Der sausende Wind stob mir Sand in die Augen und hart fiel ich zu Boden. Das stachelige Gestrüpp streifte mich und es war, als zwänge es mich in die ausgetrocknete Einöde. Die dornigen Zweige schoben mich auf den groben Sand und enttäuscht blieb ich sitzen, verbarg mein Gesicht unter den Händen und weinte bitterliche Tränen. Eisige Fesseln legten sich um mein Inneres und Entsetzen forderte das Loslassen von dem so unbändig in mir aufgeflammten Wunsch, über die schöne Wiese schreiten zu dürfen.

 Ich wollte mich nicht wirklich geschlagen geben, doch die Gewalt des herrschenden Windes, der mit den Armen des Buschwerks an mir festhielt, strafte jeglichen Versuch, zu entkommen mit noch härterem Griff. Mir schien keine andere Wahl zu bleiben, das unsichtbare Irgendwas, das mich hierher gezerrt hatte, war stärker, war mächtiger. Wie konnte ich etwas bekämpfen, das ich nicht sehen konnte, dessen Größe oder Kraft mir verborgen blieb?

 Völlig unvermittelt griffen Hände nach mir, starke Hände die trotzdem nicht schmerzten. Entgeistert öffnete ich meine Augen. Absolut ungläubig starrte ich auf die Gestalten vor mir, die ich deutlich sehen konnte. Der stürmische Wind hatte sich mit ihrem Auftauchen schlagartig gelegt. Singende und tanzende Indianer standen da, lächelten mich an und halfen mir auf.

 Vollkommen überrascht ließ ich es geschehen. Ich hatte überhaupt keine Angst vor ihnen. Warum auch immer, ich konnte es nicht benennen, aber sie schienen mir seltsam vertraut. Als ich auf unsicheren Beinen dastand, nahmen sie mich in ihre Mitte und geleiteten mich so zurück zur Straße. Ein stattlicher Mann, mit riesigem Federschmuck auf seinem Kopf sprach zu mir. Er sagte, dass ich dort nicht hingehöre und er und sein Volk beschlossen hatten, mich zu sich zu holen, weil ich doch ohnehin eine von ihnen sei.

 Ich schüttelte den Kopf und antwortete ihm, dass das nicht sein könne, ich würde sie noch nicht einmal kennen. Er legte seinen Kopf in den Nacken und lachte lauthals los. Mit einer kleinen Geste bedeutete er den anderen, mich an den Händen zu nehmen und über die Straße zu führen. Sie gingen mit mir in ihrer Mitte über die herrlich duftende Wiese bis ans Ufer des Sees. Im weißen Sand ließen sie mich los und vor mir stand ein Name geschrieben, den ich nur mühsam entziffern konnte: „Niaviatiagia“. Ich fragte, wer das sei und als wäre diese Frage überflüssig, antwortete man mir: „Aber, Kind, das bist doch du!“

 Fassungslos starrte ich auf die am Ufer entlang gezogene Schrift, konnte nicht glauben, konnte nicht erfassen, was da vor sich gegangen war. Folgte wieder und wieder mit meinen Augen dem Verlauf der fein geschwungenen Lettern, die diesen fast unaussprechlichen Namen bildeten. Ich saß im Sand und war wie gefesselt. Allmählich begann ich zu fühlen, dass ich wohl von nun an eine andere sein würde.

 Wenn auch nicht wie, so war mir doch eines klar: Ich hatte ein Zuhause und eines Tages würde ich die sein, für die man mich hier hielt, weil es die war, die in meinem tiefsten Innern längst wohnte, die aber nie hatte raus dürfen! Hier hatte man mich erkannt und war bereit, mich als eben jene anzunehmen. Hier wollte man nicht zulassen, dass ich weiterhin verkümmerte.

 Fast mein ganzes Leben habe ich mich danach gesehnt, dass es Menschen geben würde, die mich als diejenige lieben konnten, die ich war; die bereit sein würden, auch für mich einzustehen. Menschen, die mich mochten, gerade weil ich so war, wie ich in meinem tiefsten Innern fühlte; die mich auch gar nicht anders würden haben wollen, als mich im ureigensten Selbst!

 

 

 

 

 

 

Ein Kartenhaus

 

 Mit viel Geduld und unzähligen Karten, hunderten von Karten, hatte sie in mühevoller Kleinarbeit Monate gebraucht, um allein die erste Reihe aufzustellen. Stundenlang hatte sie eine Karte an die andere gestellt, weil die unterste Aufstellung zugleich die stabilste von allen sein musste. Auf ihr hatte alles Weitere aufgebaut werden müssen.

 Das schwerste war der Anfang. Alles hatte mit einer riesigen Ansammlung sinnlos verstreuter Karten begonnen. Zunächst hockte sie da, inmitten dieses irrsinnigen Haufens und während sie sich umschaute, begann sich allmählich der so fest in ihrem Hals steckende Kloß zu lösen. Leise rannen ihr die ersten Tränen über die Wangen und noch während sie versuchte, keinen Laut von sich geben, spürte sie ihn unaufhaltsam aus sich heraus brechen. Sie weinte heftig und konnte sich für lange Zeit nicht wirklich beruhigen. Sie erzitterte mit ihrem ganzen Dasein, sie würgte und erbrach, sie wusch sich stundenlang unter der Dusche und musste schließlich doch erkennen, wie sinnlos es war, den auf und in ihr abgeladenen Dreck so vieler Jahren abzuwaschen. Die Dreckkruste, in die sie sich eingehüllt fühlte, wurde davon nicht weniger. Sie musste dieser Person entschlüpfen. Sie musste begreifen, dass sie zwar den Körper nicht wechseln konnte, aber in ihm noch eine andere wohnte. Diejenige, die sie tatsächlich war und die dennoch irgendwie überlebt hatte!

 Nur zögernd stellte sie eine Karte nach der anderen hin. Hielt zwischendurch inne, weil sie einfach nicht sicher war, nicht glauben konnte, dass sie es wert sein könnte. Hoffnung keimte in ihr auf, auf eine Veränderung für die Zukunft. Anders als in der Zeit, in der man sie einfach als verhaltensgestört und bescheuert abgestempelt hatte. Man ihr durch Gewalt bewies, dass es sich ohnehin nicht lohnte, sie wahr, geschweige denn ernst zu nehmen. Man ihr immer wieder einredete, dass ihr mit Sicherheit nicht geglaubt werden würde, egal, was sie versuchen würde, um sich zu befreien.

 Und nun sollte sie sich über all jene boshaften Grausamkeiten hinwegsetzen und von vorne anfangen? Sollte den Mut und die Stärke aufbringen, sich endgültig und ein für alle Mal von dieser sie zerreißenden Last befreien?

 Nur langsam kam sie vorwärts, aber sie stellte unentwegt Karte für Karte auf. Sie baute sie in zwei Reihen, damit es auch stabil genug sei und sie nicht sofort bei der kleinsten Erschütterung erneut zusammenbrechen würden. Sie schöpfte Vertrauen und sie begann sogar daran zu glauben, dass es sich lohnen würde und auch daran, dass sie es wert war.

 Schleichend wuchs ein wunderschönes Kartenhaus heran, dessen Fundament allmählich Gestalt annahm. Im Viereck gebaut stand es da. Je mehr sie anfing, an eine Zukunft zu glauben, umso stärker wurde sie in ihrem Innern. Langsam versuchte sie, ihren Körper als das anzunehmen, was er war, der Sitz ihrer Seele und auch ihres Geistes.

 Sie merkte, wie wichtig es war, sich von innen her zu erneuern, in ein gewachsenes und gereiftes Selbst zu schlüpfen, das aus ihren tiefsten Wesensgründen entsprang. Was man ihr angetan hatte, hatte ihren Körper und ohne Zweifel auch ihr Selbst zerstört. Aber in ihr drin, ganz weit unten, gab es sie noch. Mühsam begann sie sich daran zu erinnern, wer sie war. Jeder Schritt, den sie tat, war nun einer, in ein neues Leben. Und mit jedem dieser Schritte wuchs ihr Haus um eine weitere Karte. Sie entledigte sich der sie umhüllenden Dreckkruste, in dem sie sich vorstellte, diese Kruste zu sprengen, wie einen Kokon, ihm zu entspringen und sich, endlich sich selbst bei sich zu haben.

 Sie versuchte, sich ernsthaften Auges im Spiegel zu betrachten und es verlangte ihr unendlich viel ab, sich einzugestehen, dass sie nicht wirklich hässlich war. Es war deshalb so schwer, weil ihr gesamtes früheres Denken darauf beruhte, wegen ihres Äußeren so wahnsinnig teuer bezahlen zu müssen. Sie ihr Aussehen als Strafe betrachtet hatte. Nun nahm sie es als gegeben hin, dass sie aussah, wie es ihr Spiegelbild wiedergab. Dieser Punkt war schwerer als alles andere und darum brauchte sie dafür auch sehr lange.

 Die mangelnde Selbstachtung machte ein Vorwärtskommen vorübergehend nahezu unmöglich. Zu anstrengend um mal eben einfach so ihr Denken umzustellen. Wenn dich jemand von Grund auf nicht respektiert oder achtet, spielt dein Aussehen nicht die geringste Rolle! Eigentlich hatte sie sogar die Erfahrung gemacht, dass ihr freundliches und offenes Wesen den Anstoß gegeben hatte, sie zu verletzen! Vielleicht war es ihre Ausstrahlung, die sie so angreifbar gemacht hatte?

 Doch konnte das tatsächlich ein Beginn sein, um zu sich zu finden, wenn sie nichts anderes tat, als nach Fehlern in ihrem Selbst zu suchen? Was hätte sie alles an ihrem Verhalten ändern müssen, um ja niemandem mehr die Möglichkeit zu lassen, sich über sie zu ärgern?

 Unwirsch stieß sie die zuletzt aufgestellten Karten wieder um. Wenn es ihre Freundlichkeit, ihr Aussehen und auch ihr Wesen war, das falsch sein sollte, dann blieb schlussendlich nichts mehr von ihr übrig!

 Um so zu sein, dass man sie in Ruhe ließ, hätte sie sich am Besten in Luft auflösen müssen. Die Beklemmung im Herzen schnürte ihr die Luft ab und es tat ihr weh. Konnte das denn noch der richtige Weg sein, auf dem sie sich vorwärts zu bewegen versuchte?

 Nachdenklich hielt sie die Karten in ihren Händen, schaute abwechselnd auf das schon Stehende und dann wieder auf jene, die sie wieder umgeworfen hatte. Verstreut lagen sie vor ihr auf dem Boden. Je länger sie hin und her sah, umso klarer musste sie sich eingestehen, dass sie so nicht vorwärts kommen konnte. Mehr noch, dieser Ansatz war eindeutig der Falsche. Würde sie wirklich sicherer sein, wenn sie sich vergrub und nicht wagte, sich als diejenige zu zeigen, die sie auch war?

 Ihr Körper war noch immer der gleiche, aber es war nun einmal ihrer. Sie konnte ihn nicht eintauschen in etwas anderes. Genauso wenig konnte sie ihr Wesen weiterhin unterdrücken. Was man ihr zuvor über viele Jahre abverlangt hatte, war sie nun von sich aus fortzuführen bereit. Aber das war nicht richtig! Es lag in ihrer alleinigen Macht, ob sie sich von dem vermeintlichen äußeren Druck niederstrecken ließ oder aber für sich im Stillen den Versuch unternahm, sich endlich zu akzeptieren.

 Mit sanften Schritten horchte sie auf ihre Gefühle, entwickelte ein Gespür für sich selbst. Unmerklich nahm ein wichtiges Element im Dasein eines jeden Menschen seinen Lauf. Sie begann sich in ihrer Haut wohl zu fühlen, sich zu spüren und es als gut zu heißen, dass sie sich wahrnahm.

 Inzwischen war es ein ansehnliches und mehrstöckiges Kartenhaus geworden, das sie gebaut hatte. Ein beeindruckendes kleines Kunstwerk, so sehr Teil von ihr. Oft stand sie lächelnd davor, war in Gedanken versunken und betrachtete ihre Entwicklung. Sie ließ ihren Werdegang in sich Revue passieren. Hielt inne, um sich zu vergewissern, dass es ihr gelungen war, zu der zu werden, die sie war. Diejenige, die sie sein wollte und nach so vielen Jahren der Qual endlich durfte!

 Und es wuchs noch etwas in ihr, ihr Stolz. Stolz über die vielen kleinen Schritte, die sie sich mühsam erarbeitet hatte. Es war eine besondere Leistung, die sie da erbracht hatte und sie war zu Recht stolz auf sich. Sie hatte den Mut aufgebracht, sich all den so schrecklichen Dingen zu stellen und auch dann nicht aufgegeben, als fürchterliche Albträume sie quälten. Hart hatte sie sich über diese stets wiederkehrenden Erinnerungen hinweg zu setzen versucht und sich immer wieder daran fest gehalten, dass es nun vorbei war.

 In all den Monaten war sie weitergelaufen, egal wie schwer und sinnlos es auch an mancher Stelle erschien. Sie hatte ihr eigenes kleines Wunderwerk vollbracht: sie hatte sich selbst „geschaffen“ und dafür stand jenes stattliche Kartenhaus.

 Sie musste es behüten und bewahren, wie ihren innersten Schatz. Denn ein zweites Mal durch eben dieselben Qualen und Nöte zu gehen, würde ihr nicht gelingen. Nur schwerlich konnte sie jene tiefe Angst in sich verleugnen, dass dieses Kunstwerk empfindlich war. Solange es nicht auf sicherem Boden stand, würde ein Windstoß genügen, und alles würde in sich zusammenbrechen.

 Irgendwie beschlich sie die Ahnung, dass es keinerlei Schutz davor geben konnte, also blieb nur zu hoffen übrig, dass jenes Unglück an ihr vorüber ziehen würde. Vielleicht, so dachte sie, war diese Art der Vernichtung längst beendet und je weniger sie damit rechnete, umso geringer die Chance, dass noch einmal alles dahin wäre.

 

 Aber wie so oft im Leben kommt alles anders, als man denkt. Und nicht nur das, es gibt auch selten die Möglichkeit, sich auf einen eventuellen erneuten Untergang einzustellen. Wenn es geschieht, passiert es abrupt und vollkommen unvorhersehbar. Meistens noch aus einer Richtung, auf die man niemals gekommen wäre! Mit einem gigantischen Knall stürzte das Kartenhaus zu Boden und sie stand hilflos daneben, unfähig dem offenen Toben dieses unerwarteten Sturmes mit seiner Gewaltigkeit Einhalt zu gebieten.

 Wie erstarrt saß sie lange über dem Haufen zerstreuter Karten, die sich vor ihr auf dem Boden ausbreiteten. Fassungslos kniete sie mittendrin, fühlte sich wie betäubt und wollte nicht glauben, was sie da sah. Niemals hätte sie gedacht, dass es eine Macht geben könnte, die so wütete, dass nichts, aber auch gar nichts hatte stehen bleiben können.

 Sämtliche Etagen und das Fundament waren dahin gefegt und so oft sie auch in den Berg der Karten griff, es änderte nichts an dem endgültigen Zusammenbruch. Beinahe so, als müsste sie sich durch das wahllose Hineingreifen in die Teile des einst so stolz dastehenden Hauses davon überzeugen, dass es wirklich zerstört worden war. Um begreifen zu können, dass die solange währende Arbeit, der Kampf mit sich und ihren Wunden, einfach vergeblich gewesen ist!

 Die Enttäuschung und der Schmerz lähmten sie für lange Zeit, in der sie einfach nicht erfassen konnte, wie das alles hatte geschehen können. Wie konnte es möglich gewesen sein, mit einem Wisch die mühsam errichteten Stockwerke zu vernichten? Und was noch viel schlimmer war, warum war anderen daran gelegen, sie erneut bedingungslos zu zerschmettern?

 

 Wenn einem so anstrengenden Versuch, sich wieder aufzurichten, ein noch gewaltigerer Schlag folgte, der ausschließlich neuen Schmerz zum Ziel hatte, dann war es schlicht und ergreifend sinnlos. Dann war es pure Dummheit, all die Geduld und Anstrengung auf sich zu nehmen! Warum sollte sie es tun?

 Unaufhaltsam versank sie in der alten Zeit, von der sie einstmals gehofft hatte, sie hinter sich gelassen zu haben. Einfach liegen bleiben und nichts mehr tun, sich absenken ins Dunkel, nicht wieder von vorne anfangen müssen.

 Woher die Kraft nehmen, die sie brauchte? Woher den Glauben nehmen, dass nicht wieder etwas das Kartenhaus zum Einstürzen bringen würde? Konnte denn der Glaube allein beschützen vor Unglück? Wohl kaum, aber inzwischen war es ihr einfach egal.

 

 Das Strudeln in ihrem Kopf nahm stetig zu und eigentlich wollte sie nur noch, dass es endlich aufhörte. Nicht wieder die alten Bilder vor Augen haben, nicht wieder aus Angst vor neuen heftigen Albträumen möglichst lange wach bleiben. Nicht wieder jeden Schritt beherrscht von nieder zwingenden Nöten dennoch zu gehen versuchen, obwohl doch schon längst vollkommen ausgelaugt. Keinerlei Kraftreserven, die was auch immer erleichtern könnten.

 Sie lag da und wollte nicht mehr. Eigentlich wollte sie gar nichts mehr und sie konnte sich auch nicht vorstellen, jemals wieder etwas zu wollen. Nein, diese Zeit war vorbei und würde auch nicht zurückkommen! Je länger sie auf die daliegenden Karten schaute, umso sicherer wurde sie sich darüber, dass sie einfach still und leise gehen konnte. Vermutlich wäre das der beste Weg, um vor neuem Schaden bewahrt bleiben zu können!

 Wenn sie es wenigstens hätte verstehen können, begreifen können, warum es sie jedes Mal wieder so grausam traf? Sich verkriechen, einfach aufhören zu existieren, vielleicht wäre das die Lösung all ihrer Probleme? Der Gedanke, es einfach nicht verdient zu haben, drängte sich auf und ließ keinem Zweifel Raum!

 

 Aber das stimmte nicht wirklich und sie wusste das auch. Die Lähmung, die zu schwinden begann, machte einer irrsinnigen Wut Platz. Zorn darüber, dass es offensichtlich so einfach gewesen war, das schöne Kartenhaus zu zerstören! Mit welchem Recht kamen eigentlich andere daher und behandelten sie nicht nur vollkommen respektlos, sondern taten so, als sei es ihr ureigenstes Recht.

 Nein, das hatte sie nicht verdient. Mit der stetig wachsenden Wut im Bauch wuchs ihr Selbst zu einer stärker werdenden Person heran. Gut, was geschehen war, ließ sich nicht einfach verwischen, aber dennoch musste und würde es einen Weg geben, sich aufzurichten!

 Vielleicht konnte sie ihn noch nicht sehen und womöglich würde sie noch lange brauchen, um erneut den Haufen verstreuter Karten ordnen zu können. Vermutlich müsste sie eine nicht enden wollende Anlaufphase hinter sich bringen und etwas verändern. Etwas ganz entscheidendes finden, um diesmal den erneuten Aufbau besser zu schützen. Ihn so zu sichern, dass er nicht mehr würde einstürzen können. Nicht wieder alles zerschmettert daliegen musste und der Weg ins ewige Dunkel als unausweichliche Folge erscheinen würde.

 Die Wut würde ein unersetzlicher Helfer sein. Darauf konnte sie bauen und mit der unmerklich wachsenden Aussicht, dass es diesmal dauerhaft stehen bleiben würde, war die Sicherheit gegeben, dass sie früher oder später wieder beginnen würde, Karte für Karte aufzustellen. Nur diesmal mit dem Bewusstsein im Herzen, alles anders zu machen. Mit Obacht und wachsamen Blick auf die Welt um sie herum, so dass nichts und niemand mehr es wagen würde, sie unverhohlen anzugreifen, einfach so.

 Von jetzt an würde sich etwas ändern, ganz sicher. Mit diesem Gedanken, fest in sich verankert, hob sie ihre Hand und schob das Durcheinander der Karten zu einem sauberen Haufen zusammen. Behutsam stellte sie die erste Karte wieder auf, gefolgt von der zweiten und dritten…

 

 

 

 

Der Seelenbrunnen

 

 Mitten auf einer großen sandigen Fläche stand er, der aus groben Steinen gemauerte runde Brunnen. Hier und da ein strohiges Grasbüschel und wild wucherndes Unkraut. Irgendwie sah er aus, als gehöre er dort nicht hin, obwohl sein Erscheinungsbild, unfertig und holprig erbaut, sich in die Trübsinnigkeit dieses Ortes zu fügen schien. Trotz allem fiel er sofort ins Auge, aber er wirkte befremdlich, fast schon kummervoll. Wie die ganze Lichtung, deren Mittelpunkt er bildete. Kreisförmig schloss sich ein Gewirr aus den unterschiedlichsten Bäumen und Sträuchern um diese sonderbare Lücke im sonst so unergründlichem dicht an dicht. Nur schwerlich waren Gestalten in diesem Buschwerk auszumachen. Der Brunnen selbst hatte einen Aufbau, von dem ein von Wind und Wetter gezeichnetes Seil schlaff herunter hing. Ein kleines hölzernes Gefäß war an seinem Ende befestigt und ermöglichte das kühle Nass plätschernd heraufzuholen.

 Zu dieser Stunde hockte sie da, mit dem Rücken an die raue Wand gelehnt und starrte vor sich hin. Warum sie dort so alleine saß, wusste sie nicht. Nachdenklich schaute sie sich um, aber es gab nichts, was ihr vertraut erschien. Nur der Brunnen, der schien zu ihr zu gehören. Warum konnte sie nicht sagen, aber es gab auch keinen Anlass, das in Frage zu stellen.

 Auf einmal wurde sie hart getroffen, von etwas, das sie gar nicht hatte kommen sehen. Verwundert hob sie ihre Hand und rieb sich die schmerzende Stelle am Arm. Suchend streifte ihr Blick die Reihen der Bäume und das wild zugewucherte Unterholz entlang. Doch das Geflecht aus Buschwerk und Zweigen ließ nichts erkennen, das mit einer derartigen Gewalt werfen konnte.

 Noch bevor sie verstanden hatte, was da eigentlich passierte, wurde sie erneut getroffen. Ehe sie sich versah, kam eine Flut von Geschossen auf sie zu. Steine, große und kleinere kamen schnell aufeinander folgend geflogen. Manche rund, andere eckig und scharfkantig. Einige trafen sie hart. Sie wollte aufstehen, doch ihre Beine versagten. Auf allen vieren versuchte sie, auf die Rückseite des Brunnens zu gelangen, doch egal, in welche Richtung sie sich auch zu bewegen versuchte, die Steine trafen sie dennoch. Es hatte den Anschein, als wäre es sinnlos, ihnen auszuweichen. Wohin sie sich auch wand, getroffen wurde sie sowieso. Es gab nichts, das ihr hätte Schutz bieten können. Nur schleppend begriff sie, dass sie keine Wahl hatte, um dem Angriff auszuweichen. Das war ja nicht auszuhalten. Ihr Körper war allmählich übersät von kleineren Wunden, einige bluteten. Andere waren leichte Schrammen und doch tat sie weh. Wieder auf der Vorderseite angekommen, geriet sie in Panik, aufgrund des nicht abreißenden Stroms der Wurfgeschosse. Vor lauter Verzweiflung versuchte sie aufzuspringen und von dieser Lichtung herunterzulaufen, hinein ins Dickicht, aber so weit kam sie gar nicht. Je mehr sie sich den schützenden Bäumen näherte, umso größer wurden die abgefeuerten Steine, schon fast felsenartig. Sie waren auf einmal unüberwindlich riesig. Und da plötzlich verstand sie. Schlagartig wurde ihr klar, dass der Weg nach vorne ihr nicht zustand. Es blieb nur der Rückweg in die Nähe des Brunnens. An seinem Fuß hockte sie wenig später da, die Beine angewinkelt und den Kopf hinter ihren Armen versteckt.

 Für eine lange Weile blieb sie unbeweglich sitzen. Sie saß da und rührte sich nicht, in der Hoffnung, dass es irgendwann vorbei sein musste. Und nach einer Weile, nahm die Intensität ab. Es kehrte Ruhe ein. Verwundert hob sie den Kopf, wollte der unerwartet eingetretenen Stille nicht trauen. Aber es schien aufgehört zu haben. Nur langsam bewegte sie sich aus ihrer Haltung heraus. Ihre Glieder schmerzten und da noch immer nichts geschah, wagte sie es, aufzustehen. Ganz leise und langsam. Ständig auf der Lauer liegend, traute sie dem Frieden nicht, wenn es denn einer war.

 Sie nutzte den Augenblick und beugte sich leicht über den Rand des Brunnens nach vorne. Und da konnte sie es sehen: Ihr Spiegelbild. Sie schaute sich an und versuchte zu ergründen, warum das alles passierte. Aber so sehr sie sich auch bemühte, den Sinn dahinter zu verstehen, es gelang ihr nicht.

 Eines Tages, als sie wieder an den Brunnenrand gelehnt dasaß und Gedanken verloren vor sich hin starrte, setzte es erneut ein. Unaufhörlich landeten große Steine neben ihr, bei ihr und ständig auf ihr. Es war offensichtlich, dass sie das Ziel war. Wer auch immer diese warf, sie konnte niemanden im Dickicht des Waldes ausmachen. Schutzlos schien nur sie zu sein. Es lähmte sie, nicht zu wissen, woher das kam, und noch schlimmer, warum das überhaupt geschah.

 Weil sie nicht wusste, was sie tun sollte, gewöhnte sie sich im Laufe der Zeit, die verging, daran. Es war eben so, dass immer dann, wenn ihre Wunden zu verheilen begannen, ein neuer Angriff startete. Diese Phasen wechselten mit denen, in denen sie sich halbwegs sicher glaubte. Sofern man es denn überhaupt so bezeichnen konnte. Sicher war sie hier nicht und würde es auch nie sein. Aber weg konnte sie auch nicht, also blieb ihr nichts anderes übrig, als auszuharren.

 Nachdenklich schaute sie sich um und musste erkennen, dass nahezu der ganze Platz von Steinen übersät war. Hemmungslos rannen ihr die Tränen über die Wangen, weil sie einfach nicht wusste, wie sie gegen die Steinflut ankämpfen sollte. Sie war aufgestanden und hatte einen Blick auf ihr Spiegelbild werfen wollen. Es tat so unendlich weh, diesem Zustand hoffnungslos ausgesetzt zu sein. Krampfhaft beugte sie sich über den Rand und betrachtete sich, als sie hart getroffen wurde. Blutend sank sie zu Boden und schrie gellend ihre Verzweiflung heraus. Was die Intensität der Geschosse jedoch nicht minderte. Es dauerte lange, bis sie zur Ruhe kam und der Hinterhalt endlich unterbrochen wurde.

 Erneut betrachtete sie die Unmengen an Steinen auf der Lichtung. Dann kam ihr der Gedanke, die Steine einfach in den Brunnen zu werfen. Vielleicht läge darin eine Chance, wenn sie versuchen würde, die Schneise frei zu räumen. Wenn dann gleichzeitig der Wasserspiegel stieg, wäre es einfacher, sich zu sehen.

 Sie nahm all ihren Mut zusammen und erhob sich. Etwas unergründliches, nicht wirklich zu benennendes trieb sie an. Mühsam begann sie nun, Stein für Stein aufzusammeln und ihn über den Rand zu heben. Sie warf sie einfach hinein und da sie nichts anderes mehr tat, als Steine in den Brunnen zu werfen, konnte sie sich noch nicht einmal mehr selbst sehen. Die Erschütterung der Wasseroberfläche kam einfach nicht zur Ruhe, was sie zunehmend verzweifelter machte. Dabei hatte sie doch das Gegenteil erreichen wollen, aber jetzt war alles anders. Wenn sie sich selbst nicht mehr sehen konnte, war alles verloren. Nichts war mehr von dem übrig, was zuvor noch wenigstens von den Wänden des Brunnens beschützt gewesen war.

 Resignierend sank sie zu Boden und weinte. Aber was sollte sie tun? Wenn die Steine dort liegen blieben, sogar mehr noch, wenn sie weiterhin geworfen wurden, wäre und würde sich nichts ändern! Aber wenn sie aufhörte, sie in ihren Brunnen zu werfen, dann müsste sie eines Tages in dem Steinhaufen ersticken. Was nützte es ihr dann noch, wenn sie sich selbst sehen konnte, unten auf der Wasseroberfläche des Brunnens?

 Sie verharrte eine ziemlich lange Zeit, bis es ihr wie Schuppen von den Augen zu fallen begann. Ihr Spiegelbild war und würde verzerrt bleiben, solange sie sich der Bürde annahm, die andere ihr aufgelastet hatten. Je länger sie das tun würde, umso unmöglicher war es, sich selbst zu sehen. Bis hin zu jenem Tag, an dem der Weg für sie zu ihrem Selbst gänzlich verloren sein musste. Zweifelsohne würde der Wasserspiegel nicht steigen, weil er viel zu niedrig und somit irgendwann gar nicht mehr zu sehen sein würde, und dann – dann würde sie zerbrechen an all dem Schlimmen, was unaufhörlich auf sie niederprasselte. 

 Es musste doch eine Lösung geben. Nachdenklich kaute sie auf ihrer Unterlippe. Wenn es so keinen Schutz für sie gab, dann musste sie sich selbst einen bauen. Vielleicht würde das funktionieren? Sie stand auf und begann, die Steine zu ordnen. Ungeachtet derer, die sie nach wie vor trafen. Mit verhärtetem Gesichtsausdruck lief sie über die Lichtung und sammelte auf, was in ihre Richtung geflogen kam. Sie verzog nicht eine Miene, sondern bückte sie sich unermüdlich, um aufzuheben, was sich da angesammelt hatte. Um zu beseitigen, was mehr und mehr wurde und einfach kein Ende fand. Ob sie getroffen wurde oder nicht, konnte sie scheinbar nicht weiter beeindrucken.

 Zwei große Haufen sollten entstehen, einer mit großen Brocken und der andere mit den verbleibenden kleineren. Nur darauf konzentrierte sie sich. Der Brunnen musste geschützt werden, war der vorherrschende Gedanke in ihrem Kopf. Dem allerdings ein weiterer folgte. Was denn wäre, wenn sie einfach eine Mauer bauen würde, vielleicht könnte das etwas ändern? Wenn sie der Welt da draußen nicht gewachsen war und von dieser immer nur beworfen wurde, dann wollte sie von nichts anderem mehr etwas wissen. Alles andere ausschließen. Nur so ließ es sich verhindern, dass sie dauerhaft zur Zielscheibe werden konnte.

 Also baute sie, nachdem sie sich mühsam daran gemacht hatte, die Steine zu sortieren, eine Mauer. Zu sortieren ist anstrengend, es kostet Kraft. Weil jeder dieser Steine für etwas stand, für eine Verletzung und es war unendlich schwer, daran zu rühren. Sie fühlte sich einfach nicht stark genug, in all den Vorkommnissen zu wühlen. Es war besser, sie so außer Sichtweite zu bringen, dass sie nicht selbst darüber stolpern konnte. Und sie wollte das zerstreute Chaos nicht permanent vor Augen haben. Dieses Wirrwarr, das ihr vorkam wie ein Ebenbild ihres Inneren. Es reichte vollkommen, dass sie sich durcheinander fühlte und einfach keinen klaren Kopf kriegen konnte, da musste sie es nicht noch um sich herum ständig sehen. Nachdem Tage mit dem Stapeln von Steinen vergangen waren, hockte sie sich erneut hin. Wo sollte die Mauer langlaufen und wie hoch sollte sie sein? Was sollte sie bewirken?

 Klar war, sie sollte alles abhalten, was sie verletzen konnte und daher blieb nur übrig, sie entsprechend hoch zu bauen. Gleichzeitig sollte sie ihr im inneren Kreis noch genügend Spielraum bieten, in dem sie sich bewegen konnte. Stück für Stück begann sie in etwa der Mitte der Lichtung, nun kreisförmig die Steine aufzuschichten. Die Großen nach unten und hier und da ein paar kleinere dazwischen. Es war eine mühsame Arbeit, aber je mehr sie daran baute, umso sicherer wurde sie. Sie baute, ohne wirklich darüber nachzudenken. Stoisch setzte sie die Steine übereinander, immer weiter. Wie lange sie gebaut hatte, wusste sie nicht, aber auf einmal waren alle Steine weg. Es war vollbracht.

 Sie stand im inneren Zirkel und betrachtete ihr Werk. Es war erstaunlich hoch geworden. So hoch, dass sie nicht einmal mehr die andere Seite der Lichtung sehen konnte. Sie legte sich in den Sand und fühlte sich geschützt – hier war sie sicher! Das Beste aber schien zu sein, dass auch ihr Brunnen sicher stand. Es war nicht mehr möglich, sie und auch ihn zu bewerfen. Das war gut und sie fühlte sich wesentlich besser. Sie war nicht naiv oder unendlich dumm, sie hatte es endlich geschafft und sich geschützt! Und nun konnte sie, wann immer ihr danach war, ihr Spiegelbild auf der glatten Oberfläche des Wassers betrachten. Sie hatte das Gefühl, behütet zu sein.

 Eine Zeit lang ging es ihr von Tag zu Tag besser. Sie hörte, wie die fliegenden Geschosse an der Mauer abprallten. Hier drinnen jedoch war sie sicher. Völlig auf sich selbst beschränkt, fand sie endlich Ruhe. Die Blessuren an ihren Armen und Beinen oder wo auch immer sie noch welche davon getragen hatte, konnten verheilen. An mancher Stelle ließ sich eine Narbe nicht verleugnen, aber es war besser, als ständig weitere offene Risse und Kratzer einstecken zu müssen. Eine Phase, in der sie sich ausschließlich auf sich selbst konzentrieren konnte. Niemand drang zu ihr hindurch und somit brauchte sie sich nicht auf immer neue Probleme oder Enttäuschungen einzustellen, sie brauchte keine Angst mehr davor zu haben. Sie musste schließlich aufpassen darauf, dass sie sich nicht immer wieder neuen Schwierigkeiten aussetzte und jetzt hatte sie endlich die ultimative Lösung gefunden. Wenn jetzt das Wasser im Brunnen in Unruhe geriet, so lag das daran, dass sie mit dem kleinen Gefäß das feuchte Nass herauf gezogen hatte, um sich zu erfrischen und zu reinigen.

 Schleichend jedoch kippte ihre Stimmung. Wann genau das eingesetzt hatte, konnte sie nicht sagen, aber anstatt sich selbst wieder aufbauen zu können, begann sie, sich eher schlechter zu fühlen. Wenn sie sich umsah, war nur die Mauer zu sehen, rundherum einfach nur Steine. Noch nicht einmal die Baumspitzen am Ende der Lichtung, von denen sie ja wusste, dass sie hinter ihrer Mauer standen, waren zu sehen. Und noch etwas begann sie zu stören. Je nach Stand der Sonne, wenn sie denn vom Himmel schien, warf die Mauer große Schatten und brachte Kälte. Wenn hingegen die Hitze des Sommers von oben runter brannte, war die Luft in ihrem Kreis unerträglich. Sie schien zu stehen, was das Atmen erschwerte. Auch der Wind drang nicht zu ihr durch, im Gegenteil, es war keine Bewegung mehr in ihrem Zirkelkreis, sie war eingeschlossen. Einzig der Regen fiel auf sie nieder und hinterließ deutliche Spuren, weil das angesammelte Wasser nicht abfließen konnte. Aus dem einst staubtrockenen und sandigen Untergrund war mit der Zeit eine matschige Fläche geworden, die nur selten bis gar nicht trocknen konnte. Ein Teil dessen, was der Regen brachte, konnte versickern, aber bei weitem nicht genug.

 Womöglich war die Mauer einfach zu hoch, dachte sie dann. Wenn man nur ein Stück abnehmen würde, so dass ein Schutzwall bleiben aber sie nicht eingeschlossen sein würde, wäre das vielleicht besser. Es hätte den Vorteil, dass wesentlich mehr Licht hinein dringen könnte und auch der schlammige Boden könnte trocknen und sich erholen.

 Klar war, es kamen ohnehin keine Gestalten aus der Lichtung bis zu ihr durch, das taten sie nicht. Wer auch immer es war, er warf aus dem Hinterhalt. Somit reichte es doch, die Höhe der Mauer zu verändern. Dort, von wo die meisten Fluggeschosse auf sie abgefeuert wurden, ließ sie es hoch stehen und an anderer Stelle könnte sie etwas abtragen und vielleicht sogar einen Durchgang freilegen. Sie könnte neben dem Rand der Lichtung wieder das Grün der Bäume sehen und je nach Wetterlage sogar Schutz suchen oder den Freiraum genießen.

 Sie überlegte nicht länger, sondern erhob sich, um mit der neu entdeckten Aufgabe zu beginnen. Behutsam trug sie am hinteren Teil des Brunnens die Mauer Stück für Stück ab. Dass vorne etwas gegen ihren stabilen Wall klatschte, hörte sie zwar, aber interessierte sie nur wenig. Immer näher kam sie dem Punkt, an dem sie endlich einen Blick auf den Wald erhaschen konnte. Mit schneller werdenden Bewegungen arbeiteten sich ihre Hände am sinkenden Rand der Mauer entlang. Erleichtert blickte sie dann nach einer Ewigkeit auf das Geäst der Bäume und Sträucher, die sich nun nicht mehr ihrem Blick entzogen.

 Lächelnd stand sie da und freute sich riesig über das, was sie da geschafft hatte. Es war eine gute Idee gewesen! Nickend schaute sie um sich. Das Gefühl, ein Stück Freiheit wieder erlangt zu haben, erfüllt sie innerlich mit Stolz, als unerwartet ein Stein ihre Schulter streifte. Entsetzt sah sie dem fallenden Etwas nach und als sie begriff, dass man von dieser Seite auf sie zu werfen begann, packte sie die Wut.

 Sie schaute auf ihre Hand, in der noch immer der zuletzt von ihr abgetragene Stein lag. Ohne nachzudenken hob sie ihren Arm und feuerte ihn in die Richtung, aus der sie nur wenige Augenblicke zuvor ein Angriff getroffen hatte. Nein, dachte sie, so nicht! Und da sie noch etliche Steine zur Verfügung hatte, bückte sie sich schnell, um mit beiden Händen gleich mehrere aufzuheben. Ohne zu bemerken, was sie da eigentlich tat, kam sie vor lauter Zorn ins Schwitzen. Sie schleuderte die Steine zwischen die Bäume und konnte sich nur schwer beruhigen. Erst, als der Boden zu ihren Füßen vollkommen frei geräumt war, hielt sie mit einem scharfkantigen Brocken zwischen ihren Fingern inne. Sich die Haare aus dem Gesicht streichend, stand sie noch heftig atmend da und schaute innerlich aufgebracht in das Dickicht. Mit angestrengt blinzelnden Augen forschte sie nach einer Bewegung, um eventuell stehenden Fußes genau dorthin zu zielen. Aber alles blieb ruhig.

 Entschieden drehte sie sich um, schöpfte Wasser aus ihrem Brunnen und wusch sich den Schweiß vom Gesicht sowie den Staub von ihren Armen. Das hatte jetzt mal sein müssen, dachte sie bei sich. Ohne weiter darüber nachzudenken war sie auf die Idee gekommen, sich etwas von dem Blätterwerk zu holen, um sich eine überdachte Lagerstatt bauen zu können. Vertieft in diese Idee, war sie aus ihrem Kreis heraus getreten und schälte etwas von den unteren Ästen ab, die ihr am nächsten waren.

 Stunden später, als sie stolz in ihrer kleinen, selbst gebauten Hütte lag, stutze sie unvermittelt. Was war geschehen? Sie bemerkte, dass sie sich weit über das ursprünglich gesetzte Ziel hinaus gewagt hatte. Überrascht setzte sie sich abrupt auf. Sie war tatsächlich bis an den Rand der Lichtung heran getreten und mehr noch, sie hatte dort in aller Ruhe rumhantiert und sich geholt, was sie gebraucht hatte. Nicht ein einziges Mal war sie währenddessen beworfen worden. Sonderbar! Staunend war sie aufgestanden und an die Öffnung in der Mauer heran getreten. Ganz allmählich dämmerte es ihr. Sie hatte zurückgeworfen. Und zwar etliche Geschosse voller Kraft genau dahin geschmettert, wo sie hergekommen waren. Wie durch Nebel erkannte sie erst jetzt, dass sie auf diese Weise den drohenden Angriff hatte stoppen können. Diese Erkenntnis traf sie nachhaltig mitten im Innern. Sie musste sich auf dem noch stehenden Rand hinsetzen, weil ihre Beine zu zittern anfingen. An Schlaf war nicht mehr zu denken, obwohl sie sich so auf die erste Nacht in ihrer Hütte gefreut hatte. Aber was wäre, wenn das die Lösung war? Dann bräuchte sie nicht mehr dahocken und in ihrer Verzweiflung versinken, oder? Dann hätte sie doch endlich einen Weg gefunden, wie sie sich befreien könnte, oder? Und gleichzeitig wäre ihr Brunnen, ihr heiliger Seelenbrunnen, bewahrt vor neuen Anschlägen!

 Langsam stand sie auf und schaute in das Dunkel der Nacht. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, drehte sie sich um und ging gemächlichen Schrittes in ihr kleines, provisorisches Häuschen zurück. Morgen, dachte sie, morgen werde ich genau das tun, was ich tun muss!

 

 In der folgenden Zeit war es ihr gelungen, sich mehr und mehr darin zu üben, ihren Brunnen zu beschützen. Die Mauer stand nur noch zur Hälfte, aber Teile von ihr waren noch in ihrer ursprünglichen Größe verblieben. Sie hatte sich aus dem Material, was ihr der Wald bot, Pfeil und Bogen gebastelt und beherrschte zunehmend den Umgang mit ihnen. Es brachte ihr insofern Vorteile, weil sie weitaus gezielter in die Richtung schießen konnte, aus der man nach ihr geworfen hatte. Die Welle der Angriffe war erheblich zurückgegangen, kaum dass sie entdeckt hatte, wie viel Kraft in ihr steckte. Wann sie das letzte Mal mit Steinen bombardiert worden war, konnte sie nicht einmal mehr sagen. Es war schon eine ganze Weile her.

 

 Auf ihrer kleinen Lichtung war es inzwischen ruhig und heimisch geworden. Ihr erstes kleines Blätterdachnest war einem stattlichen Haus gewichen. Eine gemütliche Feuerstelle davor als auch ein liebevoll angelegtes Blumenbeet gaben dem einst so kahl und versandet daliegenden Platz zwischen den Bäumen ein heimeliges Ansehen.

 Der aus groben Steinen erbaute Brunnen war von blühenden Rankengewächsen leuchtend eingehüllt. Die Oberfläche des Wassers gab spiegelnd ihr Antlitz wieder, wann immer sie dort hinein schaute und sich selbst zufrieden lächeln sah.

 Das Unterholz war einsehbar und sogar ein Weg führte von ihrem kleinen Zuhause hinaus in den Wald, der, wie sie festgestellt hatte, wunderschön war. Und eines Tages geschah es nun, dass sie, mit sich völlig im Reinen dem Wesen gegenüber stand, ganz unvermittelt, mit dem sie sich augenblicklich liebevoll verbunden fühlte.

 Auslöschen konnte sie das Vergangene nicht vollständig, aber es versank zunehmend im Nebel des Vergessens und wurde von dem abgelöst, was jetzt zu ihr gehörte. Ein Dasein, das sich gewandelt hatte, vom kläglichen Elend hin zu einem Leben, das mit Freude und Wärme erfüllt war!

 

 

 

 

 

 

 

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© Jasmina Marks